Von: A.D.
Name des Trägers: Sankt Antoniushaus Niendorf
Dauer der Verschickung: 6 Wochen
Bericht: Ich muss 4 Jahre alt gewesen sein, als ich mit meinem zwei Jahre älteren Bruder M. nach Niendorf „verschickt“ wurde. Dies muss im Jahre 1971 gewesen sein.
Ich weiß, dass wir damals vom Bahnhof Bielefeld gestartet sind, wo uns unsere Nachbarin, die uns mit unserer Mutter zusammen zum Bahnhof gebracht hatte, ein Fix-und-Foxi-Comic-Heft schenkte. Wir waren so stolz auf unsere Hefte.
Wie die eigentliche Reise von Bielefeld nach Niendorf verlaufen ist, kann ich nicht sagen. Ich weiß, dass wir am Zug von den Ordensschwestern in Empfang genommen wurden und dass jedes Kind Limonade bekam. Ich möchte behaupten, dass irgendetwas in der Limonade gewesen sein muss, denn an diese lange Zugfahrt habe ich keinerlei Erinnerung.
In Niendorf wurde ich dann von meinem Bruder getrennt. Ich habe ihn immer nur bei Essen oder in den Waschräumen gesehen.
Ich schlief mit mehreren Kindern in einem großen Schlafsaal. Nachts zur Toilette gehen, war nicht. Ich musste die ganze Nacht mein Bedürfnis aufhalten. Unter Schmerzen habe ich gebetet, dass die Nacht endet, weil ich so dringend zur Toilette musste. Einmal habe ich es nicht mehr geschafft und ins Bett gemacht. Am nächsten Morgen wurde ich vor allen Kindern im Schlafsaal bloßgestellt und niedergemacht. Alleine musste ich als 4jähriger mein Bett beziehen.
Morgens zum Waschen mussten wir alle im Keller nackt „antreten“ und wurden in einem – für mich – großen Becken mit einem dicken Wasserstrahl kalt abgesprüht. Dies war eine Tortur. Weitere Einzelheiten möchte ich hier nicht nennen.
Vor dem Mittagessen musste ich immer zum Inhalieren. Dort wartete Schwester T. auf mich. Sie war die einzige Schwester, die mal nett war und ein Lächeln für uns Kinder aufbringen konnte.
Zum Mittagessen gab es – ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern – Ravioli.
Ich mochte keine Ravioli. Ich habe dies auch geäußert und wurde zum Essen gezwungen. Alle Kinder waren schon mit dem Essen fertig und spielten draußen, ich saß allein mit einer Schwester in einem großen Essenssaal. Sie drohte mir: „Wenn du meinst, du musst die Ravioli ausbrechen, dann isst du deine Kotze samt Ravioli auf“. Auf weitere Einzelheiten hier, möchte ich nicht eingehen.
Auch das Fix-und-Foxi-Heft wurde meinem Bruder abgenommen und zerrissen; ich habe gar nicht mehr gewagt, das Heft auszupacken.
Unsere Rückfahrt verlief wie die Hinfahrt. Am Bahnhof in Bielefeld habe ich nach 6 Wochen langer Kur meine Mutter nicht mehr erkannt. Ich war total verwirrt und desorientiert. Es muss wohl wieder etwas in der Limonade, die wir auch auf der Rückfahrt bekommen haben – im Heim noch – gewesen sein. Ich weiß noch nicht einmal mehr, wie wir vom Heim zum Bahnhof bzw. in den Zug gestiegen sind.
Ganz viele Jahre hatte ich als kleines Kind immer Angst vor fremden Frauen. Ich habe mich immer schützend hinter meiner Mutter versteckt.
Es gibt viele Dinge, die ich noch aufzählen könnte und die mir in Erinnerung sind – doch es ist sehr schwer darüber zu sprechen bzw. zu schreiben.
Anonymisierungs-ID: aks