Von: F.K.
Name des Trägers: Barmer Ersatzkasse
Kostenträger: Barmer Ersatzkasse
Verschickungsort: Haus Marion, Haffkrug (Lübecker Bucht)
Dauer der Verschickung: 6 1/2 Wochen
Bericht: Schlimm. Ich war 8 und wurde im Sommer 1982, einige Monate, nachdem mein Vater
verstorben war, zum „Zunehmen“ verschickt. Es waren auch deutlich jüngere Kinder dort, das jüngste
Mädchen war 3 oder 4 Jahre alt.
Man musste allein im Zug sitzen. Irgendwo stieg später eine „Tante“ zu. Die war freundlich. In
Oldenburg musste ich dann leider umsteigen zu einer anderen „Tante“. Die war kalt.
Stundenlange Spaziergänge, händchenhaltend.
Freundschaften wurden nicht gefördert. Wenn Kinder sich mochten, bekam man beim Spaziergang
plötzlich jemand anderen zugewiesen. An freie Zeit oder Spielzeiten kann ich mich nicht erinnern.
Vor dem Essen immer Lieder aus der „Mundorgel“ singen.
Fettiges Essen, das ich nicht gegessen habe. Nicht essen wurde mit Entzug von Nachtisch oder
Nachmittagskuchen bestraft. Ich habe dann wochenlang nur von einem mageren Frühstück gelebt und
wurde immer dünner. Dauernd schlimmes Nasenbluten, v.a. bei den Spaziergängen. In den letzten
beiden Wochen habe ich endlich Haferflocken (die ich geliebt habe) essen dürfen. Wahrscheinlich
hatte man Angst um den „Kurerfolg“.
Ich bin gegen einen Laternenmast gelaufen und dann war die Brille kaputt. Musste mich selbst drum
kümmern, damit ich wieder sehen kann. Ich lese eh zu viel!
Es wurde nicht gern gesehen, dass ich so viel lese. Habe ich heimlich gemacht. Ohne mein
Lieblingsbuch hätte ich die Kur nicht überstanden! Und vor allem nicht diese sinnlosen, endlosen
Mittagsruhen.
Lange Mittagsruhe mit Toilettenverbot. Das wirkt bis heute nach. Ich glaube, wenn man trotzdem ging
und 3 x erwischt wurde, gab es eine Strafe. Irgendwas mit kalter Dusche? Ich bin mir aber nicht sicher.
Hin und wieder haben wir in der Ruhezeit, aus Verzweiflung oder Bosheit oder was auch immer, in das
Bett eines Mädchens gepinkelt, die nicht im Zimmer war. Tut mir heute noch leid, dass ich mitgemacht
habe. Bestimmt wurde auch in mein Bett gepinkelt, wenn ich mal beim Wiegen oder so war. Manchmal
war da feucht und warm.
wir mussten immer die Betten „schön ordentlich“ machen. Die Älteren haben das kontrolliert und
darauf gab es Punkte. Die Punkte wurden gesammelt und dann konnte man irgendwelche Vorteile
erlangen. Ich habe kaum welche bekommen – war auch bei den Älteren nicht sonderlich beliebt.
Wenn Post kam, musste man raten, für wen wohl der Brief oder das Paket sein könnte. Schrecklich. Ich
habe mich nicht getraut, zu melden und daher mein Geburtstagspäckchen erst später erhalten.
Süßigkeiten wurden herausgenommen und verteilt.
Ein Mädchen hat uns gezeigt, dass es helfen kann, wenn man sich selbst verletzt. Dann merkt man den
emotionalen Schmerz nicht so doll. Wir haben uns kollektiv die Handrücken aufgekratzt. Die Narben
sind noch da.
Regelmäßiges Wiegen in Unterwäsche.
Ich musste mit einem Brief, in dem stand „ein Kurerfolg konnte nicht gewährleistet werden“ Zuhause
antreten. Ein Gefühl, als hätte ich auf der ganzen Linie versagt. Ich weiß noch genau, dass ich mit 19,6
kg angekommen und mit 16,9 kg nach Hause gefahren bin. Der Dreher ist mir im Kopf geblieben.
Das Personal war nicht präsent, sehr unpersönlich, keine emotionale Zuwendung.
Mit 3 Wochen Verspätung dann wieder zuhause in die 3. Klasse gegangen, als wäre nix gewesen.
1 x waren wir ganz kurz am Meer (das Haus Marion liegt wenige Meter vom Meer entfernt). 1 x in
Scharbeutz im Wellenbad, was ich als schön erinnere. Und ganz zum Schluss gab es eine Fahrt ins
Hansaland, hin mussten wir wandern, zurück kam tatsächlich ein Bus. Das war, glaube ich, der einzige
wirklich schöne Tag in der ganzen Zeit dort.
Einmal wurden wir gegen 10 Uhr abends geweckt. Da gab es Miesmuscheln für alle und irgendwie war
an dem Abend eine fröhliche Partystimmung. Warum das jetzt passiert war, wusste niemand.
Wen wir alle ganz „brav“ waren, durften wir abends mit dem Personal Bud-Spencer-Filme ansehen.
Pädagogisch total wertvoll! Und es gab eine kollektive Geburtstagsfeier, für die Kinder, die in der Kur
Geburtstag hatten. Ich glaube aber, dass ich mich nicht getraut habe, zu sagen, dass auch ich
dazugehörte. Ich bin mir aber nicht sicher. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon emotional „dicht
gemacht“.
Ich habe irgendwo was von einem grünen Rucksack der BEK gelesen. Da habe ich wirklich Gänsehaut
bekommen. Den hatte ich auch!
Mit 12 wurde ich nochmal verschickt. Für 3 Wochen an den Schluchsee. Dort schien es schon so etwas
wie ein pädagogisches Konzept zu geben. Und ich habe dort eine Freundin gefunden. Diesen Aufenthalt
habe ich als weniger traumatisch im Gedächtnis und sogar einige schöne Erinnerungen.
Anonymisierungs-ID: anh