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25938 Wyk auf Föhr, 1963

Den Namen habe ich zeitlebens nicht vergessen

27476 Duhnen, 1966

Von: St.-A.H.

Dauer der Verschickung: 6 Wochen

Bericht: In den 60er Jahren bin ich zwei Mal als Verschickungskind an der Nordsee gewesen: 1963 mit 6 Jahren in Wyk auf Föhr und 1966 mit 9 Jahren in Cuxhaven-Duhnen. Die öffentliche Diskussion der jüngsten Zeit über Verschickungskinder hat bei mir – wenn auch nur bruchstückhaft – Erinnerungen überwiegend an die Zeit in Cuxhaven zurückkommen lassen.

Denke ich an Cuxhaven, erscheinen mir die Erinnerungsbilder überwiegend in Schwarz-Weiß-Tönen. Untergebracht war ich für sechs Wochen im Haus „Sonnenhof“, einem im Inneren düsteren Haus, in dem eine dunkle, bedrückende Atmosphäre herrschte und in dem nicht laut geredet wurde. In den vollen Schlafräumen standen die Betten eng beieinander.

Auch im Speiseraum saßen wir Kinder eng gedrängt an langen Tischen. An das Essen erinnere ich mich nicht, auch nicht an physische Strafen. Insgesamt aber herrschte stets ein strenger, ruppiger Ton und es kam nahezu täglich vor, dass Kinder während der Mahlzeiten wegen „Plapperns“ mit dem Gesicht zur Wand stehen oder so lange bei Tisch sitzen mussten, bis die Teller leer waren.

Die Herrin des Hauses war Inhaberin H. K. Die bloße Nennung des Namens flößte Respekt ein oder diente als Druckmittel. Den Namen habe ich zeitlebens nicht vergessen. Als ich zu Beginn stark unter Heimweh litt, wurde ich ihr Zimmer zitiert. Mit scharfem Ton stellte sie klar, dass ich – mit 9 Jahren – jederzeit alleine mit dem Zug nach Hause fahren könne, ansonsten wolle sie von Heimweh „keinen Ton mehr“ hören. Die Betreuerinnen wurden als „Tanten“ angesprochen, wobei deren Vorgesetzte eine ebenso gefühlskalte und verhärmte Frau war wie die Eigentümerin.

Es herrschte oft Langeweile. Höhepunkte waren gemeinsame Besuche aller Kinder am Strand, an dem es keine Möglichkeit gab, zur Toilette zu gehen. Auf dem Rückweg wurden die in Zweierreihen laufenden Kinder dann aufgefordert, das „Sonnenhof-Lied“ zu singen: „Wir wollen Frau K. doch eine Freude machen“, hieß es.

Kontakte zu Familien der Kinder wurden strikt eingeschränkt. Kinder, die schreiben konnten, bekamen belanglose Postkartentexte diktiert, den anderen wurden Karten vorgeschrieben. Vor dem Versenden wurden die Karten noch einmal daraufhin durchgesehen, ob Zusätze heimlich ergänzt wurden. Kamen Pakete von zuhause, wurden sie den Kindern nicht persönlich ausgehändigt. Die Inhalte, zumeist Süßigkeiten, wurden an alle Kinder verteilt. Dies diente zugleich als Belohnungssystem für „besonders Brave“. Andere Paketinhalte wurden zurückgehalten bis zur Abreise.

Meinem Großvater machten vor allem die stereotypen Inhalte der Postkarten skeptisch, sodass er kurzerhand beschloss, mit meiner Mutter nach Cuxhaven zu fahren. Inhaberin K. machte ihnen eine lautstarke Szene und forderte sie zur sofortigen Abreise auf. In der Post-Nazi-Zeit schien derartig autoritäres Gebaren offenbar noch zu verfangen. Die Herrin des Sonnenhofs ließ mich während des „Donnerwetters“ vor der Türe warten und anschließend alleine in ihrem Zimmer antreten. Sie beklagte sich über das unmögliche Verhalten meiner Familie und schüchterte mich damit ein, mich jederzeit alleine in den Zug zu setzen.

Wie gesagt, die Erinnerungen kamen erst jetzt teilweise wieder ans Licht. Dinge, die mich in Folge zeitlebens beschäftigt haben, sind mir nicht bewusst. Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich nach dem Cuxhaven-Aufenthalt lange Zeit an den Fingernägeln gekaut haben.

Meiner Mutter mache ich im Nachhinein keine Vorwürfe. Sie war alleinerziehend, berufstätig und nervlich schwer angespannt zu jener Zeit. Die Kinderkur war ihr von einer Betriebsärztin empfohlen worden, was ihr wohl eine gewisse Sicherheit vermittelt hatte. Nach Cuxhaven allerdings war das Thema Verschickung für alle Zeiten vom Tisch.

Anonymisierungs-ID: aih

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