25997 Sylt-Westerland, 1975

„Dann kommt es wieder dieses Gefühl der Ohnmacht …“

Von: P.M.M.

Name des Trägers: Arbeiterwohlfahrt (aber im Text: katholische Schwestern)

Kostenträger: KKH

Dauer der Verschickung: 6 Monate

Bericht: Ich wurde zweimal für 6 Wochen an die Nordsee verschickt.

Das erste Mal, 1973, war ich mit sieben Jahren in Langeoog im Dünenheim.

Das zweite Mal, 1975, war ich mit neun Jahren in Westerland-Sylt im Kurt-Pohle Kinderkurheim.

Mein Aufenthalt dort hat schon, bevor ich dort ankam, schlecht begonnen. Auf dem Bahnsteig vor der Insel Sylt wurden wir von einer Betreuerin abgeholt. Ich habe Sie angesprochen und wollte ihr einen Gruß von meinen Brüdern ausrichten, die im Vorjahr dort waren. Dass ich es gewagt habe sie anzusprechen, hat ihr aber gar nicht gefallen. Sie sagte mir ich sei frech, schlecht erzogen, und dass sie mir deswegen das Leben in den nächsten Wochen schwer machen würde, und so kam es dann auch. Ich weiß noch wie geschockt ich war, denn ich habe nicht verstanden, was ich falsch gemacht habe. Mir war als Kind plötzlich klar, dass ich dieser aggressiven Frau hilflos ausgesetzt war und hatte riesengroße Angst, dabei war ich noch nicht einmal dort angekommen. Sie sagte mir später, sie möge keine Mädchen, sondern nur Jungs.

Am ersten Tag sind wir die Treppe zum Haupteingang hinaufgestiegen und wurden in der hübschen Eingangshalle begrüßt. Ich sehe noch unsere Koffer dort stehen. Der Gedanke, jetzt jeden Tag durch diese schöne Eingangshalle zu gehen, hat mich sehr erfreut. Jedoch wurde ich bald eines Besseren belehrt. Nach unserem ersten Spaziergang führte man uns durch eine Nebentür ins Untergeschoß, wo wir unsere Schuhe und Jacken aus- und anzogen. Ich war darüber sehr enttäuscht und habe die Betreuerin gefragt, warum wir nicht die Treppe zum Haupteingang benützen. Sie hat mich angeschrien und gesagt die sei nur für Gäste und nachdem ich ja jetzt hier wohnen würde, dürfte ich die Treppe nicht mehr benützen und wenn ich es trotzdem täte, würde ich dafür bestraft werden. Das ich kein Gast war, sondern jetzt hier wohnen würde, das hat mir Angst gemacht, denn als Kind wohnt man dort, wo die Eltern wohnen und nirgendwo anders. Aber genau so war der Aufenthalt dort, gleich von Anfang an wurden wir ständig von den Betreuerinnen angeschrien, bedroht und bestraft. Ständig mussten wir uns beeilen, und vor allem den Mund halten.

Beim Mittagessen mussten wir uns immer zum Tischgebet die Hände reichen. Der Junge, der neben mir saß, hat mir dabei jede Mal die Hand zerquetscht. Ich konnte aber nichts sagen, wir durften während dem Essen nicht sprechen. Als ich es doch einmal versucht habe, wurde ich von den katholischen Schwestern, die das Essen ausgeteilt haben, sofort angeschrien und als Lügnerin bezeichnet.

Das Essen war nicht kindgerecht, ich erinnere mich an den schlechten Geruch der Kartoffeln, und vor allem an das Sauerkraut, das ich auch heute noch nicht essen kann. Ich musste mit ansehen, wie eine Junge sein Gebrochenes aufessen musste. Mich selbst würgte es damals auch oft. Weil ich dort immer großen Hunger hatte, und andere Kinder von ihren Eltern Päckchen mit Essen bekamen, habe ich bei einem der wenigen erlaubten Anrufe meine Mutter angefleht mir ein Esspakt zu schicken. Ich erinnere mich noch daran, wie meine Mutter mich mehrmals danach gefragt hat, warum ich ein Päckchen will und ob ich genug zum Essen bekomme. Ich konnte ihr aber am Telefon nichts sagen, denn die Betreuerinnen waren hinter mir und haben zugehört. Ich habe so sehnsüchtig auf das Paket gewartet. Es kam dann auch, aber ich durfte nur die Prinzenrolle behalten, den Rest musste ich abgeben. Ich kann mich auch an die Gummibärchen erinnern, die vor dem Schlafengehen ausgeteilt wurden. Ich selbst habe keine bekommen. Aber einmal dann doch, daran war ich sogar selber schuld. Man sagte uns es wären Gummibärchen und natürlich wollte ich irgendwann auch eines probieren und habe danach gefragt. Man hat es mir gegeben. In dieser Nacht bin ich nicht rechtzeitig aufgewacht, um auf die Toilette zu gehen und habe wieder, mit neun Jahren, ins Bett gemacht. Ich habe vorher geträumt ich wäre auf der Toilette, und der Traum war so echt. Ich frage mich heute noch, wie das möglich war und warum mir das passiert ist. Auf jeden Fall war ich danach total schockiert und beschämt. Dazu muss ich erwähnen, dass meine Bettnachbarin jeden Tag ins Bett gemacht hat und dafür immer hart bestraft und, vor uns, von den Betreuerinnen schlecht gemacht wurde. Ich habe das alles mitbekommen, denn ich schlief ja neben ihr. Vielleicht habe ich auch deshalb wieder ins Bett gemacht, aus Angst vor der Strafe. Das Mädchen war die Kleinste unserer Gruppe und eigentlich sehr nett, aber nachdem sie von den Betreuerinnen so negativ hingestellt wurde, wollte ich irgendwann nichts mehr mit ihr zu tun haben. Es tut mir heute noch leid, dass ich so schlecht zu ihr war und sie nicht beschützt habe. Wer abends nicht einschlafen konnte oder die Augen nicht zu hatte, wurde aus dem Bett gerissen und musste sich auf den kalten Boden unter den Stuhl der Betreuerin legen. Mir ist das auch passiert, aber nachdem der Platz unter ihrem Stuhl schon besetzt war, musste ich mich auf den Boden zwischen zwei Betten legen. Dort sah ich andere Kinder, die auch auf dem Boden lagen. Vor dem Schlafengehen mussten wir uns immer im Anbau versammeln und dann gemeinsam durch den Garten ins Schlafgebäude gehen, das nicht mit dem Haupthaus verbunden war. Morgens war dann das Geschrei und der ganze Stress andersrum. Wir haben im Anbau gefrühstückt und meistens auch Abend gegessen. Mittags ging es einen Stock tiefer in den kargen, trostlosen Essraum (es gibt eine Postkarte von ihm), vor dessen Tür wir oft im Halbdunkeln gewartet haben, bis man uns einließ. Ich weiß noch ganz genau, wo ich saß. Das Heim hatte auch einen Innenhof mit einer kleinen Rutsche, in dem wir gruppenweise spielen durften. Aber auch diese Erinnerung ist mit einer Erniedrigung verbunden. Ich sehe in meiner Erinnerung eine Gruppe älterer Kinder draußen spielen. Weil ich auch so gerne noch draußen spielen wollte, habe ich die Betreuerinnen gefragt, ob meine Gruppe danach raus darf. Mir wurde daraufhin klar gemacht, dass das, was die Großen dürfen für die Kleinen nicht gilt. Kränkend und abwertend war die Art und Weise wie man mit uns sprach.

Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern an dem ein Gruppenfoto am Strand gemacht wurde, aber nur deshalb, weil ich so unendlich traurig und verloren war. Dieses Gruppenfoto habe noch und jedes Mal, wenn ich es betrachte, kommt die Erinnerung an diese Traurigkeit wieder. Als ich nach Haus kam, war ich nicht mehr das lebhafte und fröhlich Kind, das ich vor der Verschickung war. Ich war tief verletzt, traurig und musste oft weinen. Ich konnte aber meiner Mutter nicht erklären was vorgefallen war. Ich konnte nur immer wieder sagen, dass die Betreuerin, die meine Brüder so gemocht haben, schrecklich zu mir war. Meine Brüder haben mir dann immer gesagt, dass das meine eigene Schuld sei, denn zu ihnen waren Sie ja nett.

Ich kam danach in die vierte Klasse. Im Gegensatz zu meinen anderen Schuljahren habe ich an dieses Jahr keine Erinnerungen mehr. Meine Noten sind schlechter geworden, ich war wie weggetreten, fürs Gymnasium hat es vorerst nicht gereicht.

Ich habe heute noch Probleme mit Menschen, die mir nicht glauben oder mir nicht richtig zuhören. Dann kommt es wieder dieses Gefühl der Ohnmacht und ich werde wieder genauso traurig und unruhig in meiner Seele wie damals. Genauso geht es mir auch wenn ich hinstehen und vor einer Gruppe etwas sagen muss.

Menschen, die mich von oben herab behandeln, sich autoritär aufspielen oder die Macht auf ihrer Seite wissen, gehe ich am liebsten aus dem Weg. Wenn es ungerecht oder unüberlegt zugeht, anstatt mich zu wehren, bin ich wegen diesem Gefühl der radikalen Hilflosigkeit, des Ausgeliefertsein und auch der Angst und Verzweiflung, die damit verbunden sind, wie gelähmt. Ich denke immer noch, dass, egal was ich tue, es nie ausreicht, dass der Andere mir glaubt oder mich schätzt.

Ich habe seit meiner Verschickung Essstörungen. Ich ertrage den Hunger nicht. Nachdem die dicken Kinder von den Betreuern so gehänselt wurden, habe ich seither bei jedem Hungergefühl schreckliche Angst davor dick zu werden. Sauerkraut kann ich immer noch nicht riechen, es erinnert mich an Gebrochenes.

Ich habe vor zehn Jahren eine Psychoanalyse begonnen. Sie hilft mir die Auswirkungen der Verschickungen besser zu verstehen und damit umzugehen, aber ungeschehen kann Sie keiner machen.

Anonymisierungs-ID: als

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