26548 Norderney ,1964

Ach, da haben wir schon wieder so eine Heulsuse.


Von: K.A.
Hallo,
mein Bruder machte mich auf einen Zeitungsartikel aufmerksam, indem es um
“Verschickungskinder” ging und Betroffene gesucht werden.
Ich, Jahrgang 1959, war als 5-Jährige wegen Bronchitis drei Monate auf Norderney in einem
Kurheim. Natürlich alleine.
Wir lebten in Brühl. Ich wurde von meinen Eltern zum Kölner Hauptbahnhof gebracht und
musste die Reise alleine antreten. In dem Abteil war eine Begleiterin, eine mir vollkommen
unbekannte Person und zwei Jungen. Die Jungen machten sich über mich lustig.
Im Kurheim angekommen wurde ich in den Speisesaal gebracht und brach in Tränen aus. Der
Kommentar einer Erzieherin: Ach, da haben wir schon wieder so eine Heulsuse.
Beim Auspacken meines Reisegepäcks entdeckte man meine Lieblingspuppe. Sofort Geschimpfe,
es wäre doch bekannt gegeben worden, dass kein Spielzeug mitgebracht werden dürfe. Die
Puppe wurde weggeschlossen. Persönliche Dinge waren nicht erlaubt.
Ich war über Weihnachten dort. Das Paket, das meine Eltern mir schickten, durfte ich öffnen,
aber die Dinge, u. a. eine neue Puppe, wurden auch weggeräumt und ich habe sie erst zu Hause
wieder erhalten.
Mir sind noch einige Episoden in Erinnerung. An körperliche Misshandlungen kann ich mich
nicht erinnern. In dieser Beziehung habe ich wohl Glück gehabt.
Nach drei Monaten wieder zu Hause am Bahnhof angekommen, erkannte ich meine Mutter wohl
nicht. So wurde mir berichtet. Ich glaube aber, dass ich gefremdelt habe. Dass mir bewusst
gewesen ist, dass es meine Mutter war. Aber sicher bin ich mir da nicht. Ich war lange genug
weg, um den norddeutschen Dialekt anzunehmen. Was man sich in der Familie heute noch
erzählt.
Ich habe mehrere Psychotherapien wegen Depressionen hinter mir. Dieses Erlebnis gehört mit
Sicherheit zu den Auslösern dazu.
Freundliche Grüße
Anonymisierungs-ID: adt

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