26548 Norderney, 1969

„… gab es bei Auffälligkeiten Ohrfeigen oder Boxhiebe auf das Schulterblatt mit ausgestülptem Mittelfinger“

Von: R.Sch.

Dauer der Verschickung: geschätzt 6 Wochen.

Bericht: Marienheim auf Norderney – aus meiner Erinnerung an diese Zeit als 9-Jähriger.

Wie es genau zu dieser Verschickung kam, kann ich nicht sagen. Aus der Erinnerung war es Untergewicht. Der behandelnde Arzt gab dann die Empfehlung an meine Eltern mich in Kinderverschickung zur Kur zu geben. So kam ich damals nach Norderney ins Marienheim. Genauso wie ich mich an keinen traurigen Abschied erinnern kann, ist mir auch die Erinnerung an eine freudige Heimkehr verloren gegangen bzw. nicht mehr bewusst.

Von Bonn aus wurde ich morgens zum Zug gebracht. Die Fahrt mit dem Zug kam mir unendlich lang vor und wenig davon habe ich behalten. Ich kannte niemand im Zug und ob es Begleitpersonal gab, weiß ich nicht. Vom Endpunkt Norddeich dann mit der Fähre nach Norderney. Die Überfahrt sowie der Weg vom Hafen zum dortigen Marienheim, habe ich ebenfalls vergessen. Ich habe nur heute nachgelesen das die Überfahrt 55 Minuten dauert und war ganz erstaunt, wie ich diese Zeitdauer vergessen konnte.

Als wir in Norderney ankamen, war es bereits dunkel. Empfang und genaue Abläufe bei der Ankunft sind verblasst. Ein Detail ist mir in Erinnerung geblieben. Die „Tanten“, die uns empfingen und aufteilten nach Alter und Geschlecht, wussten nicht so recht, wo ich hinsollte. Eher zu den „Kleinen“, für die ich zu alt war, oder zu den „Großen“, für die ich zu klein war. Nach einiger Zeit wurde ich dann dem Schlafsaal der „Großen“ zugeteilt.

Tagesabläufe kann ich auch nur in Teilen wiedergeben. Da ich zu der Zeit keine Uhr hatte und auch dort keine Uhren hingen war alles gefühlt zeitlos. An Körperpflege waschen, duschen, Toilettengänge kann ich mich nicht erinnern. Ein Toilettentrakt mit beißendem Uringestank, den ich heimlich aufsuchte, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, oder wegen der Nachtwache, die auf Ihrem Kontrollgang durch den Schlafsaal mit einer Taschenlampe kontrollierte, indem man angeleuchtet wurde, ob auch alle wirklich schliefen. Wenn Sie den Schlafsaal dann verlassen hatte und ich nicht wieder einschlafen konnte, ging ich in diesen Toilettenraum. Hier konnte ich heimlich vor Heimweh weinen, sowie Gedanken an Flucht aus diesem Heim ausarbeiten. Ich stellte mir vor durchs Watt zum Festland die Insel verlassen zu können. Das habe ich so gedanklich durchgespielt. Ich wusste das durch Ebbe das Watt entsteht, aber keine Ahnung, um was für Entfernungen es sich dabei handelte. Jetzt wird mir langsam wieder bewusst, wie verzweifelt ich eigentlich gewesen sein muss, dass mir solche Gedanken in Erinnerung geblieben sind!

Auch wenn man nachts bei Kontrollen wach war, täuschte man besser den Schlaf vor, um seine Ruhe zu haben. Je nach Person gab es bei Auffälligkeiten Ohrfeigen oder Boxhiebe auf das Schulterblatt mit ausgestülptem Mittelfinger. Das war sehr schmerzhaft und unangenehm. Einige Male wurden Kinder die wach waren mitgenommen und kamen erst nach einiger Zeit wieder ins Bett. Auch mir ist das einmal passiert. Im Schlafanzug und mit dem Kopfkissen musste ich in einem kleinen Raum auf einer Holzbank sitzend warten. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor in diesem erleuchteten kalten Raum eingesperrt zu sein, bis ich wieder in mein Bett durfte.

Unvergessen sind geruchliche Erinnerungen. Der durchdringende Geruch von gewissen Speisen. Kohlgeruch, Erbsensuppe, Milchgrieß, Kartoffelpüree. Es war möglich anhand dieses Geruchs bereits zu ahnen, was es zu essen gab. Der unnachahmliche Geruch der Kräutertees nach Fenchel, Kamille oder der Geruch von Ersatzkaffee, den wir morgens und auch nachmittags bekamen. Es sind genau diese Gerüche, die ich auch heute noch mit diesem Aufenthalt verbinde, wenn ich sie rieche.

Der Tagesablauf war eintönig und damit langweilig. Frühes wecken sowie waschen und Ankleiden mit Bettenmachen. Warten am gemachten Bett mit kurzer Abnahme und dann ging es in den großen Speisesaal. Frühstück mit Gebet davor und danach. Schweigen beim Essen. Im Anschluss gingen wir in einen kleinen Raum. Malen, Gesellschaftsspiele, Knetgummi waren die Beschäftigungen dort. Nur einige Male waren wir an der frischen Luft. Ausflüge oder Aufenthalte am Strand wurden nie unternommen. An einigen ausgesuchten Tagen wurde nach Hause geschrieben. Briefmarken sowie vorfrankierte Kuverts für Briefe mit Anschrift hatte ich laut Anweisung für Ausstattung im Gepäck. Die Briefe wurden gelesen. Ich wurde gebeten meinen Brief neu zu schreiben, da ich meinen Eltern doch bitte keinen Kummer und Sorgen machen sollte. Ich solle schreiben das es mir gefällt und es mir hier am Meer gut gehe. Da habe ich das nach Hause geschrieben, was ich gesagt bekam. Die Zeilen von Kummer, Heimweh und das ich lieber wieder zurück wolle landeten im Papierkorb. Es gab extra einen Hinweis an die Eltern keine Pakete mit Essen oder Süßigkeiten zu senden, da diese an alle verteilt würden. Es sei denn es handelte sich um ein Geburtstagspaket!

Dann war es Mittag und es wurde im Speisesaal, unter schweigen, das Mittagessen eingenommen. Die Nonnen und die Oberin saßen erhöht auf einem Podest zu uns gewandt und nahmen alle Mahlzeiten mit uns ein. Das Schweigen wurde streng eingehalten und überwacht.

Die Tanten saßen mit uns Kindern an den Tischen. Jeder hatte seinen festen Platz und die jeweilige Aufsichtsperson am Tisch verteilte die Portionen auf die Teller. Besonders wurde kontrolliert das aufgegessen wurde. Wer nicht aufgegessen hatte durfte den Speisesaal nicht verlassen. Ein Junge hat deshalb so geweint das es mit leid tat und ich versuchte ihn zu trösten. Er erbrach auf seinen Teller. Es wurde mir so schlecht, dass ich fluchtartig den Raum verließ aus Angst ebenfalls erbrechen zu müssen.

Dieser Zwang aufessen zu müssen hat mich sehr nachhaltig geprägt. Aversionen gegen Kräutertees sowie gewisse Speisen (Erbsensuppe oder Vermengungen von Kartoffelbrei mit Gemüse) sind bis heute präsent. Meist reicht ein gewisser Geruch aus, um diese negativ besetzten Gefühle bei mir zu aktivieren.

Im Anschluss an das Gebet mussten wir zur Mittagsruhe. Es kam mir so lange vor und meist konnte ich nicht schlafen. Die Aussicht auf Kuchen oder Gebäck sowie auch wenige Male auf Kakao statt Ersatzkaffe waren das Highlight des Tages.

Nachmittgas wiederholte sich das Vormittagsprogramm mit wenigen Ausnahmen. Ich kann mich an 2 der seltenen Ausgänge erinnern. Es waren die Besuche des dortigen neuen Wellenbades mit Seewasser.

Den Abschluss des Tages bildete das Abendbrot. Meist mit aufgewärmten Resten vom Mittagsessen. Besonders schlimm empfand ich, wenn sich der Duft des aufgewärmten Mittagsresten mit dem Teegeruch von Fenchel und Anis vermischte. Dieser Geruch ist für mich immer noch unerträglich. Ich konnte lange Zeit nach dieser Zeit keinen Tee trinken.

Abschließend ein Gebet und dann hoch in den Schlafsaal. Ausziehen, Schlafanzug anziehen. Ruhe, Licht aus und schlafen war dann der Tagesausklang. So erlebte ich diese sechs Wochen in Norderney. Körperliche Züchtigungen sowie Bestrafungen gab es während des Aufenthaltes und habe ich auch gesehen. Der Kontakt zu den Aufsichtspersonen „Tanten“ war distanziert und wenig empathisch. Es war mehr ein Kommandoton, der uns sagte, was wir zu tun und zu lassen hatten.

Engere Kontakte zu den anderen Kindern habe ich nicht bekommen. Dazu hatte wahrscheinlich keiner Lust und Interesse, da jeder irgendwie selbst mit dieser Situation zurechtkommen musste.

Ich habe kaum Berichte sowie Unterlagen zu dem Marienheim gefunden. Ob wir Medikamente oder Sedierungen heimlich stattfanden, ist nicht belegt. Ich selbst kann mich auch an keine Untersuchung erinnern.

Daher suche ich heute nach Kontakten zum Austausch und zum Abgleich mit meinen Erinnerungen aus dieser Zeit.

Als ich aus dieser Kur nach Hause zurückkam, war ich gefühlt ein anderer Mensch. So richtig einordnen in Familie und Schulalltag konnte ich mich nicht mehr. Ich hatte immer Angst aufzufallen oder meine Sicht der Dinge ehrlich und offen preiszugeben.

Ich habe mich mehr angepasst an die jeweilige Situation und an die Personen, mit denen ich Umgang hatte. Daraus erwuchsen keine nachhaltigen Freundschaften. Den Wunsch nach Anerkennung und Vertrauen habe ich durch Anpassung erreicht. Durch dieses Verhalten habe ich meine eigenen Gefühle und Bedürfnissen kaum bis keinen Raum geben können. Auffälligkeiten und eine spezielle Rebellion gegen Autorität und Zwang haben sich entwickelt und mich die ganze Schulzeit begleitet. Leistungsverweigerung als Trotzreaktion. Hinter dieser Fassade aus Trotz und Aufsässigkeit eine labile und leicht verwundbare Persönlichkeit mit wenig Selbstbewusstsein. Ich habe es nie geschafft wirkliches Vertrauen auch zu meiner Person zu bekommen. Ich verspürte immer diese Angst enttäuscht zu werden. Eine tragende Vertrauensbasis zu meinen Eltern und generell zu anderen Personen ist bis heute nie entstanden oder nachhaltig gestört. Die Gründe liegen für mich im Verborgenen.

Als Person habe ich dieses so empfundene Trauma sowie die Verletzungen aus dieser Zeit nie vergessen können. Immer wieder erinnere ich mich daran unter schmerzlicher Trauer. Und so richtig weiß ich nicht damit umzugehen. Es schmerzt und tut weh. Bisher konnte ich diesen Schmerz zwar fühlen, weiß aber nicht um die genauen Umstände und den genauen Auslöser. Gerne würde ich dieses Kapitel meines Lebens verarbeiten und abschließen. Doch bisher ist mir dies nicht gelungen.

Erste Erkenntnisse von Fachleuten sagen mir, dass dieses Verdrängen mit als Kind geholfen hat diese Zeit zu überstehen und dass dieser Schutz mir nun als Erwachsener im Weg ist. Was kann ich tun, um dies zu ändern? Die fehlende Anerkennung von meinen Eltern ist ein weiterer zusätzlicher Schmerz. Ich habe den Eindruck das diese Schilderungen nie richtig ernst genommen wurden. Eine Akzeptanz für meine Gefühle des Erlebten wurde nie Raum gegeben. Damit wurden sie aus meiner Sicht nie anerkannt und verleugnet.

Heute kann ich zurückblickend betätigen, was ich aus anderen Berichten der anderen Betroffenen gelesen habe. Viel seelisches Leid was die Personen Ihr gesamtes Leben lang, unsichtbar für andere, begleitet. Auswirkungen dieser Traumata und unverarbeiteten Geschehnisse auch als Grund für Probleme sowie Einschränkungen in der späteren Entwicklung und Auslöser für psychische Erkrankungen.

Ich leide wiederholt unter Angstzuständen und einer rezidivierenden Depression. Viele Gespräche unter Verhaltenstherapie und Medikamente haben bisher nicht geholfen. Anonymisierungs-ID: alh

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