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26548 Norderney, 1973

da hat sie mich einfach an den Beinen dort reingezogen

Von: I.K.

Dauer der Verschickung: 6 Wochen

Bericht: 1973 war ich 6 Jahre alt und wurde das erste Mal nach Norderney zur Kur geschickt. Da erinnere ich mich aber nur daran, dass wir in einem riesigen Raum mit ganz vielen Betten schlafen mussten und dass ich einmal einen Turm mit Bauklötzen gebaut habe auf dem Tisch, der ist dann umgefallen und weil das so laut war, musste ich zur Strafe den ganzen Nachmittag mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke stehen. Mehr Erinnerungen habe ich da nicht mehr von.

Das zweite Mal wurde ich 1977 dort hingeschickt, das muss Ende Oktober oder Anfang November gewesen sein, weil ich dort meinen 10 Geburtstag gefeiert habe.

Ich erinnere mich, dass meine Mutter mit mir beim Gesundheitsamt war, wo ich untersucht wurde. Der Arzt meinte zu meiner Mutter, dass ich viel zu dünn und unterernährt wäre. Deswegen musste meine Mutter mich wohl nach Norderney schicken.

Ich wollte nicht, weil ich immer sehr schnell Heimweh hatte, wenn ich mal von zu Hause weg war, aber meine Mutter sagte mir, dass ich ja schon mal mit 6 dort war und es mir damals gut gefallen hatte und dass es dort ein Meer gäbe. Darauf war ich dann schon sehr neugierig, weil ich hatte, ja noch nie ein Meer gesehen hatte, außer im T.V.

Meine Mutter musste dann in sämtliche Kleidung von mir ein Namensschild einkleben oder nähen (so genau weiß ich das nicht mehr).

Als der Tag der Abreise war hat sie mich zum Wanneeickeler Hbf gebracht, (das war damals unser Wohnort), wo schon ganz viele andere Kinder warteten. Ich bekam dann eine Armbinde um, ich glaube sie war rot und dann wurden wir vom Reisebegleiter in den

Zug gesetzt und nach Norderney gebracht.

Damit es nicht zu lang wird zähle ich ab jetzt nur meine schrecklichen Erlebnisse auf, die ich bis heute nicht vergessen habe.

Wir waren in Zimmer mit 2 Etagenbetten untergebracht. Mein Bett war, wenn man reinkam, links unten. Nachts war immer eine Wache auf dem Flur und hat aufgepasst, dass keiner redet oder aufsteht.

Die Chefin von dem Kurheim war eine dunkelhaarige mollige Frau mit einem Dackel. Sie hatte wohl auf der Mädchen Etage, die Jungs waren unten, ihre Privaträume und ich habe dann immer abends den Dackel über den Flur tippeln gehört, wenn sie da entlanglief.

Einmal hat mich die Wächterin erwischt, dass ich geredet habe, da hat sie mir befohlen mit samt meiner Bettdecke mitzukommen. Sie führte mich runter zu der Etage wo die Jungs untergebracht waren in ein kleines Zimmer wo nichts drin stand, außer einer Liege. Dort musste ich mich dann zum Schlafen hinlegen. In dem Zimmer gab es noch nicht mal ein Fenster und es war stockdunkel. Ich hatte wahnsinnige Angst und die ganze Nacht nach meiner Mama geweint.

Beim Mittagschlaf bin ich einmal heimlich aufgestanden und ans Fenster gegangen, weil ich so gerne einmal die Ebbe sehen wollte, weil wenn wir nachmittags aufgestanden sind, war das Meer plötzlich ganz weit hinten und ich wollte so gerne mal sehen, wie das aussieht, wenn sich das Wasser zurückzieht.

Aber ich wurde wieder erwischt und musste zur Strafe mit meiner Bettdecke den ganzen Nachmittag im Waschraum auf einem Holz Stuhl sitzen.

Einmal rief meine Mutter dort an und verlangte mich am Telefon. Eine Erzieherin holte mich zum Büro und sagte mir, dass ich meiner Mutter erzählen muss, dass es mir gut gefällt und alles ganz toll ist, sie würde danebenstehen und hören, wenn ich was falsches sage.

Also habe ich meine Mutter angelogen und ganz doll mit den Tränen gekämpft als ich ihre Stimme am Telefon hörte.

Unsere Briefe wurden auch kontrolliert, wir durften nichts Negatives hineinschreiben.

Als ich meinen 10. Geburtstag hatte, hat meine Mutter mir ein Päckchen mit Süßigkeiten geschickt und eine Geburtstagskarte. Die musste ich laut vor allen vorlesen und die Süßigkeiten wurden mir weggenommen und an alle Kinder verteilt.

Beim Essen mussten wir immer alles aufessen. Wenn nicht, musste man so lange sitzen bleiben, bis man den Teller leer hatte. Man wurde gezwungen auch Gerichte zu essen die man nicht mochte. Ich hatte dort eine Freundin, mit der ich heimlich getauscht habe, sie hat mir das gegeben, was sie nicht mochte und ich ihr das was ich nicht mochte. War nur blöd, wenn wir beide gleichzeitig etwas nicht mochten. Dann habe ich es mir mit Würgereiz und Nase zuhalten runter gewürgt.

Das nächste an das ich mich erinnere ist, dass in der Turnhalle an manchen Tagen eine, ich glaube Höhensonne hieß das Ding, aufgebaut wurde. Wir mussten dann eine Schutzbrille aufsetzen und uns nur im Schlüpfer bekleidet im Kreis um diese Sonne aufstellen. Ich hatte aber panische Angst vor diesem Ding und bin rausgerannt. Eine Erzieherin hat mich wieder eingefangen und wollte mich an den Armen wieder in die Turnhalle reinziehen. Ich habe mich dann schreiend auf den Boden geworfen, da hat sie mich einfach an den Beinen dort reingezogen.

Ich hatte dann so schreckliches Heimweh, dass ich sogar Fieber bekommen habe. Ich erinnere mich, dass ich morgens mit Fieber wach wurde. Eine Erzieherin kam dann und hat mir ein Fieberthermometer in den Hintern gesteckt und zu mir Strafe angedroht, wenn ich kein Fieber habe.

Aber weil ich Fieber hatte, musste ich auf die Kranken Station. Dort war ich bis zur Abreise, ich glaube ca. 1 Woche, das weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß aber, dass ein Nikolaus zu mir ans Bett kam und mir Schokolade brachte und dass das Bett viel zu hoch war für mich und ich von der Tür aus Anlauf nehmen musste, um auf dieses Bett hochzukommen. Aber obwohl ich so schlimmes Heimweh hatte, haben die mich nicht eher nach Hause gelassen.

Ich weiß noch, dass ich bei meiner Ankunft am Bahnhof meiner Mutter heulend in die Arme gefallen bin. Ich habe ihr alles erzählt und sie fragte mich warum ich ihr das nicht geschrieben habe oder am Telefon erzählt. Sie konnte das nicht fassen, was ich ihr erzählt habe, zumal meine ältere Schwester auch schon mal auf Norderney war in den 60iger Jahren und ihr es sehr gut gefallen hat dort.

2014 bin ich das erste Mal wieder nach Norderney gereist und hatte ein ganz mulmiges Gefühl im Magen. Ich bin am Strand entlanggelaufen und wollte sehen, ob es dieses Kurheim noch gibt.

Das Gebäude habe ich dann auch wieder gefunden, es sah von außen noch genauso aus wie damals, nur der Zaun zum Strand hin war nicht mehr da.

In diesem Gebäude befindet sich heute ein Hotel. Mich hat es sehr beruhigt, dass in diesem Haus keine Kinder mehr gequält werden

Anonymisierungs-ID: air

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