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26548 Norderney, 1976

Nackt unter dem Nachthemd

Von: M.Sch.


Name des Trägers: unbekannt
Kostenträger: vielleicht die AOK


Dauer der Verschickung: 6 Wochen
Bericht: 6 Wochen vor den NRW-Sommerferien 1976 wurde ich nach Norderney verschickt.
Im Mai 1976 war ich gerade 9 Jahre alt geworden. Im Gegensatz zu anderen Zeitzeugenberichten wurde ich darauf vorbereitet zur Kinderkur zu fahren. Ich sollte dort an der frischen Nordseeluft hauptsächlich aufgepäppelt werden, weil ich in dem endenden 3. Schuljahr sehr oft sehr krank war, und die Salzluft gut für meine Atemwege sein sollte. Meine Mutter kaufte einen extra großen Koffer und kennzeichnete meine Kleidung – wie angewiesen – weil diese dort in Abständen gewaschen werden sollte. Ich hatte exakt 42 Schlüpferchen im Gepäck, damit ich auch täglich wechseln konnte, falls das mit der Wäsche doch nicht so klappe. Dieser Koffer wurde vorweggeschickt, damit ich auf der Reise nur Handgepäck und Proviant brauchte. Ich wusste ich bin ganze 6 Wochen weg, hatte allerdings keine Idee, wie lange das wirklich ist. Am Tag der Abreise brachte mich meine Mutter morgens zum Bahnhof. Es war ein unwirtliches Wetter, und das Einzige, was Farbe in diesen tristen Tag brachte, war die knallrote Baskenmütze meiner Mutter, die aus dem Zugfenster noch lange weithin sichtbar war. Am Bahnhof Olpe selbst wurden wir einer älteren Dame übergeben, die uns per Zug nach Norderney eskortierte. Wir, das waren zwei Brüder in meinem Alter und die 6jährige S. Am Bahnhof Drolshagen (den gab es damals noch) nahmen wir noch einen Jungen zwischen 10 und 12 Jahren auf. Die Fahrt erschien uns ewig, und damit wir beim Umsteigen nicht verloren gingen bekam jedes Kind ein Schild umgehangen, welches die „Oma“ vorbereitet hatte. Die Eskorte war mit Gesellschaftsspielen gerüstet, auf dass es uns nicht langweilig würde und achtete auf regelmäßige Pausen mit unserem Proviant. Auch wenn die Fahrt lang war, so war sie auch aufregend. Eine solche Reise hatte ich noch nie gemacht. Die Reisen zu den jeweiligen Großeltern im Kreisgebiet dauerten mit Bus und Bahn kaum eine Stunde. Irgendwie war ich auch vorfreudig, denn meine Eltern hielten mich also für alt genug so eine weite Reise „alleine“ bewältigen zu können. Auch dachte ich ans Meer, das ich zuvor noch nie „in echt“ gesehen hatte.
Ich habe keine Erinnerung daran, ob wir noch mit der „Oma“ auf der Fähre waren, oder ob wir bereits bei deren Betreten in die Obhut der Kurklinik übergeben worden waren.
Im Kurheim selbst trafen wir so am späten Nachmittag ein. Noch bevor wir den Gruppen und den 4-Bett-Zimmern zugewiesen wurden, wurden wir „gefilzt“ und mussten alles abgeben, was die Erzieherinnen als verboten eingestuft hatten. So wurde ich mein Kaugummilabyrinth los, das mir meine Oma mitgegeben hatte. Andere Kinder hatten noch viel mehr Süßigkeiten dabei, die restlos einkassiert wurden. Dann wurden wir in 4 Gruppen aufgeteilt: Die großen und die kleinen Mädchen sowie die großen und die kleinen Jungen. Ich gehörte wegen meines Alters in die Gruppe der „großen Mädchen“, die wohl bis 8 Jahre ging, wurde aber beinahe wegen meiner geringen Körpergröße (hatte ich zur Erstkommunion wenige Monate zuvor noch Gr. 122 getragen) bei den „kleinen Mädchen“ eingruppiert. Allerdings hätte meine Umgruppierung zu verwalterischem Durcheinander geführt, weshalb ich bei den großen Mädchen verblieb. Ich bekam allerdings die Auflage nur bis maximal zur Hüfte in die Nordsee 
reingehen zu dürfen.
S. gehörte fortan zu den kleinen Mädchen, und ich sah sie bis zum Kurende nur gelegentlich beim Frühstück am Tisch ihrer Gruppe, da diese eine andere Tagesstruktur hatte.
Dann ging es für die „großen Mädchen“ auf ihren Flur, wo sie in Vierergruppen jeweils einem Zimmer zugewiesen wurden. Jedoch durften wir uns noch nicht in die Zimmer begeben, denn wir mussten uns zu unseren vorweg geschickten Koffern auf den Gang vor die jeweiligen Schränke stellen. In unserem Beisein wurde unsere Kleidung in den Flurwandschrank einsortiert. Die „leeren“ Koffer wurden per Leiter in die obersten Schränke eingeschlossen. Dass die Koffer nicht ganz leer waren, bemerkten wir erst wieder bei der Abreise, wo etliches vermisst, geglaubtes wieder auftauchte. Z.B. Sonnencremes, da die Kinderchen ja nun schön braun werden sollten. (Hautkrebs war in den 1970ern noch kein Thema – Sonnenbestrahlung und Sonnenbrand galten als „gesund“)
Hatte man allen „kleinen Mädchen und Jungen“ bei der Kurbewilligung noch je ein Kuscheltier zur Mitnahme gestattet, so waren sie beim Eintreffen im Kurheim samt und sonders in den Koffern in die allerobersten Schränke eingeschlossen worden. (deswegen hörten wir nachts wohl so oft die kleinen Mädchen weinen) Sämtliches Bargeld, Briefmarken, Schmuck und Armbanduhren wurde/n „in Verwahrung“ genommen. Ebenso das Briefpapier.
Offiziell wurden Barschaften und Briefmarken in einem kleinen Büchlein geführt.
Das Verschickungskind besaß kein Bargeld und erst recht keine Briefmarken, damit sich das Kind weder Briefmarken noch irgendein Souvenir oder eine Ansichtskarte selbst besorgen konnte – ohne Kenntnis des Erziehungspersonals. Außer im Speisesaal gab es nirgendwo Uhren, so dass kein Kind wusste, wie spät oder früh es ist.
Gerade ich hatte mir das Lesen der Uhr so hart erarbeiten müssen. Ich mochte es meinen Wecker zu stellen und pünktlich aufzustehen. In der Verschickungskur bestimmte das Personal, wieviel Uhr es ist, und was gerade zu tun sei bzw. auf dem „Plan“ steht.
Wie oben schon geschrieben wurde das Briefpapier vom Personal aus dem Koffer genommen und irgendwo anders unter Verschluss gehalten. Jeden Dienstag, war nach dem Abendbrot „Briefschreibezeit“. Jedes Mädchen bekam ihre Briefpapierschachtel ausgehändigt und die Anweisung, dass zuerst den Eltern zu schreiben sei, und erst danach durften wir noch jemand anderem schreiben.
Doch es gab Einschränkungen:
Ein Brief durfte max. 2 Seiten (also 1 Bogen hinten und vorne beschrieben) lang sein, und es durften max. 2 Briefe geschrieben werden. Der Umschlag durfte nicht zugeklebt werden.
Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass das Erziehungspersonal gar nicht alle Briefe hätte vorab lesen können, wenn mehr geschrieben worden wäre.
Ich gehörte schon damals zu den Kindern, die gerne und viel schrieben. Also waren diese Beschränkungen für mich sehr einengend. Natürlich wurden uns die ersten Sätze an unsere Eltern diktiert:
„Liebe Eltern…. mir geht es sehr gut…. hier ist es sehr schön…“
Kinder, die Kritik am Essen verfassten, oder gar schrieben, dass sie die Süßigkeiten hatten abgeben müssen, oder das Geld aus dem letzten Brief gar nie gesehen hätten, durften am nächsten Vormittag nicht mit „auf Ausflug“ und mussten den Brief noch mal schreiben.
Natürlich schickten mir auch meine Großeltern väterlicherseits mal einen 10-DM-Schein und Briefmarken, damit ich ihnen öfter schriebe, was mir aber nicht möglich war, da ich den dienstäglichen 2. Brief ja auch mal an andere Verwandte schreiben wollte. Die Eingangspost erhielten wir ebenso geöffnet und mit entnommenem Bargeld/Briefmarken. (k.A. ob die geführte Handschriftenliste vollständig war)
Ich habe keine genauen Erinnerungen daran, was wir jeden Tag so machten, doch ich weiß, dass wir vom Frühstück bis zum Mittagessen unterwegs waren und nach dem Mittagessen bis zum Abendbrot ebenso. Ich erinnere mich, dass wir manchmal nach dem Mittag „ruhen“ sollten, jedoch nicht an „Mittagsschlaf“.
Ich hatte das Gefühl immer nur gewandert zu sein – über die Insel, und dann wieder bis an den Strand.
Hin und wieder kauften die Erzieherinnen uns allen je 2 Kugeln Eis auf dem Heimweg.
Stracciatella und Malaga. Das wurde gleich bei Rückkehr mit der Bargeldliste in Einklang gebracht.
Je länger die Kur andauerte, desto mehr gab es 11-12jährige Mädchen, die wegen der Post rebellierten und versuchten Briefe am Personal vorbeizuschmuggeln. Wer erwischt wurde, bekam eine Strafe.
Ich weiß nicht welche, doch von Prügeln kam mir nichts zu Ohren.
Auch wenn ich gerne längere Briefe an mehrere Personen geschrieben hätte, so lag es mir fern dagegen zu rebellieren. Ich bin in einem ebenso kontrollierenden Elternhaus aufgewachsen, in dem selbst eingehende Geburtstagspost von Verwandten geöffnet wurde. Selbstgeschriebene Briefe musste ich vor dem Versand auch die Mutti lesen lassen, um eine Briefmarke zu erhalten. Taschengeld erhielt ich auch keins, weshalb es für mich in Hinsicht auf Bargeld, Briefmarken, Süßigkeiten auf Norderney so ähnlich wie zuhause war.
Zuhause hatte ich ebenfalls gelernt auch Dinge zu essen, die ich nicht mochte, oder zuvor noch nie gegessen hatte. Ich wusste, wie man Grießbrei mit Haut isst, ohne sich zu erbrechen.
Da war ich etlichen anderen Kindern gegenüber im Vorteil.
Als es Labskaus gab, welches tatsächlich für Nicht-Norddeutsche wie schonmal gegessen aussieht, gab es in unserer Gruppe 2 Mädchen, die das nicht essen mochten. Also mussten sie vor dem Mittagsgericht so lange sitzen, bis sie es aßen – wir waren ja schließlich zum Aufpäppeln da.
Die beiden saßen noch am nächsten Morgen beim Frühstück vor dem ollen Labskaus vom Vortag. Ich habe keine Ahnung, ob sie ihn letztlich gegessen haben, oder die Heimleitung ein Einsehen gehabt hat. Zu meiner Zeit gab es keinen Vorfall, wo Kinder ihr Erbrochenes hatten essen müssen.
Wenn Schlafenszeit war, durften wir unsere Zimmer nicht mehr verlassen – auch nicht zur Toilette. Auch das war ich von zuhause gewöhnt. Dennoch musste ich mich einmal mit Hilfe meiner Zimmergenossinnen an der Nachtwache vorbei auf’s WC schleichen.
Anderen gelang das nicht immer, und von „kleinen Mädchen und Jungen“ hörte man gelegentlich, dass sie wieder einnässten und dafür bestraft wurden.
Ein 12jähriges Mädchen hatte ihren 7jährigen Bruder in der Gruppe der „kleinen Jungen“. Der Ärmste hatte solches Heimweh, dass er so lange weinte, bis die Schwester zu ihm ins Bett durfte.
Dann brach sich das Mädchen auch noch einen Mittelfußknochen, weshalb letztlich die Eltern kamen und beide abholen durften.
Es gelang einigen wenigen Mädchen Post nach außen zu schmuggeln, weshalb mind. 2 Eltern ihre Kinder abholen wollten, was ihnen bei Androhung mit Kostenauferlegung versagt wurde.
Während meiner Verschickung bekamen meine Eltern ihren allerersten Telefonanschluss, weshalb meine Mutter sogleich versuchte mich während des Mittagessens zu erreichen, was jedoch abgeschmettert wurde. Ich bekam erst nach meiner Rückkehr davon Kenntnis.
Das Personal hatte mir den Anruf nämlich verschwiegen.
Des Weiteren erinnere ich mich, dass wir ungefähr im letzten Viertel der Kinderkur von der männlichen Nachtwache die Anweisung bekamen unter dem Nachthemd nackt sein zu müssen und keinen Schlüpfer tragen zu dürfen. Dem entgingen meine Zimmergenossinnen und ich, indem wir die Nachthemden hochbanden, weshalb wir dann doch ein Höschen drunter tragen durften.
1x wurden wir während der Verschickungskur untersucht. Dazu hatten wir uns nur mit Höschen 
bekleidet in einer Reihe aufzustellen, bis wir von einem ältlichen Doktor untersucht wurden.
So entkleidet wurde den Wartenden immer kälter und manche begannen zu zittern, was mit Meckern geahndet wurde – schließlich lag zu der Zeit „Abhärtung“ noch immer hoch im Kurs.
In der Woche vor der Abreise wurde unsere Barschaft abgerechnet und wir bekamen gesagt für
wie viel DM wir jetzt noch Souvenirs kaufen dürften/müssten.
Uhren und Schmuck gab es auch zurück, auch wenn 2 Mädchen klagten es fehle ihnen ihre Kette.
Da waren auch die Erzieherinnen etwas weniger streng, und wir durften sogar legal Ansichtskarten verschicken. Da passte ja nun nicht viel drauf.
Ich war ein sehr schüchternes Kind, das sich unter so vielen anderen Kindern aus anderen Verhältnissen behaupten musste, die nicht davor zurück schreckten, ihren „Mitinsassen“ Dinge abzunehmen. Das wiederum wurde von der Erzieherschaft weder „gesehen“ noch geahndet.
Mir ist mal ein Mädchen mit ihrem Schwedenclog auf meine Hand gesprungen, weil ich mich auf etwas am Boden Liegendes bückte, auf das sie Anspruch erhob. Mein Finger tat wirklich weh und schwoll an, beachtet wurde das von der Heimleitung nicht.
Auch meine Eltern machten bis zu den folgenden Herbstferien „kein Aufheben“ darum, wo sich dann herausstellte, dass mein rechter Mittelfinger in der Kur angebrochen und in der Folge nun schief zusammen gewachsen war.

Alles in allem war das eine Erfahrung, die ich gerne ausgelassen hätte.
Selbst als Kinderlose kann ich mir nicht vorstellen mein Kind völlig alleine 6 Wochen zu verschicken bei nur einem Brief pro Woche.
Doch damals waren die Eltern ja der Meinung sie täten ihren Kindern etwas Gutes.
Übergriffe, Prügel und „strenge Erziehung“ waren auch in vielen Elternhäusern an der Tagesordnung, weshalb viele Kinder ihre Verschickungskur gar nicht in Frage stellten – die Eltern schon gerade nicht.
Erst durch meine Psychotherapie ist da so einiges hochgespült worden, darunter auch diese Kur.

Nach dieser Kinderverschickung erschien ich meiner Familie völlig „verdreht“. Ich war „frech und aufmüpfig“. Sie stellten zwar einen Zusammenhang her, zogen aber die falschen oder gar keine Schlüsse. Schließlich war ich ja zum Herbst wieder „normal“.

Anonymisierungs-ID: ahu

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