26571 Juist
Von: H.R.
Ich bin nunmehr 65 Jahre alt und nach mehr als 40 Dienstjahren als Kriminalbeamter seit ein
paar Jahren im Ruhestand. Sie können sich sicher vorstellen, dass ich im Laufe meiner Dienstzeit
viele tragische und beeindruckende Geschehensnisse erlebt habe, zumal ich in vielen
Kriminalitätsbereichen und hier in einigen Leitungsfunktionen eingesetzt war. Insofern würde
ich mich u. a. als psychisch sehr stabil einschätzen.
Um so mehr hat es mich erstaunt, dass ich mich nach dem Lesen der ersten Zeilen des Artikels
sofort an zwei Begebenheiten während meines Aufenthaltes in einem Kinderkurheim erinnerte.
Leider sind meine Eltern verstorben, sodass ich sie nicht mehr befragen konnte.
Ich weiß noch, dass ich mir als ca. 10 jähriger Schüler beim Schwimmunterricht in einem
Lehrschwimmbecken eine kräftige Platzwunde am Kopf zugezogen hatte, die im weiteren
Verlauf nur schlecht verheilte. Da ich recht dünn gewesen bin und durch die Verletzung offenbar
noch weiter an Gewicht abgenommen hatte, wurde – wahrscheinlich nach ärztlichem Rat
- entschieden, dass ich zur Erholung in ein Erholungsheim entsandt werden sollte. Da mein
Vater zu dieser Zeit als Bergmann beschäftigt und bei der Knappschaft versichert war, wurde ich
für den Zeitraum von vier Wochen in ein Heim auf der Nordseeinsel Juist geschickt.
An den Aufenthalt dort habe ich leider beinahe gar keine Erinnerungen mehr. Lediglich zwei
Begebenheiten haben sich offensichtlich fest in mein Gedächtnis eingebrannt und ich möchte
Ihnen davon berichten:
Eines mittags gab es zum Nachtisch Grießbrei mit Pflaumen. Ich weiß nicht warum, aber ich
mochte den Nachtisch nicht und ließ ihn daher stehen. Auch auf mehrfache Aufforderung durch
eine Frau des dortigen Heimpersonals war ich nicht bereit, den Brei zu essen. Nachdem bereits
alle anderen Mitstreiter den Speisesaal verlassen hatten wurde ich angewiesen, dort solange
sitzen zu bleiben, bis ich den Nachtisch aufgegessen hatte.
Schließlich wurde ich in einen Flur gezerrt und musste vor dem Zimmer der Heimleitung
warten. Erst wenn ich mich bei der Heimleitung dafür entschuldigen würde, dass ich meinen
Nachtisch nicht gegessen hatte und dieses Verhalten bereuen würde, könnte ich wieder in mein
Zimmer gehen. Selbstverständlich wären die geplanten Ausflüge der nächsten Tage für mich auf
jeden Fall gestrichen und ich müsse im Heim bleiben.
Nach vielen Stunden des Wartens neben der Tür zur Heimleitung habe ich am späten Abend das
Büro betreten und mich – obwohl sich alles in mir dagegen sträubte – für mein Verhalten am
Mittagstisch entschuldigt. Mir war damals schon klar, dass man mich doch nicht zum Essen
zwingen konnte und ich eigentlich nichts falsch gemacht hatte.
Ich habe übrigens bis heute noch niemals Grießbrei gegessen. Wahrscheinlich würde er mir
sogar schmecken!
Darüber hinaus erinnere ich mich noch daran, dass wir Jungen in einem
Gemeinschaftsduschraum duschten. Unter uns befanden sich auch älter Jungen, die deutlich
kräftiger entwickelt und entsprechend behaart waren.
Unsere Waschvorgänge wurden dabei regelmäßig von zwei Frauen des Heimpersonals
beobachtet, die sich ebenfalls im Duschraum aufhielten. Mir ist deutlich in Erinnerung, dass die
Frauen den älteren Jungen mehr Aufmerksamkeit schenkten als uns jüngeren Kindern.
Obwohl ich als 10jähriger Bub natürlich vollkommen unbedacht war, hat sich mir diese
Anwesenheit der beiden Frauen in mein Gedächtnis festgesetzt. Jahre später wurde mir klar,
dass dieses Verhalten kaum mit Aufsichtspflichten des Heimpersonals o. ä. erklärt werden kann.
Für mich ist es schon erstaunlich, dass ich diese beiden Erlebnisse noch immer in Erinnerung
habe. Ich habe die Befürchtung, dass die damaligen Ereignisse wahrscheinlich noch
eindrucksvoller gewesen sein müssen, als sie mir schließlich in Erinnerung geblieben sind.
Sicher haben Sie von anderen Personen deutlich gravierendere Kur-Ereignisse erfahren.
Dennoch fühlte ich mich erwogen, Ihnen meine Kinderkurerfahrungen mitzuteilen. Falls Sie aus
dem Kurheim der Insel Juist noch andere oder ähnliche Schilderungen erfahren haben, wäre es
prima, wenn Sie mir etwas darüber mitteilen könnten.
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Initiative bei den Recherchen viel Erfolg!
Mit freundlichen Grüßen
Anonymisierungs-ID: acw