Von: J.
Name des Trägers: Stadt Münster
Bericht: Meine Zwillingsschwester und ich wurden im 3. Schuljahr für 6 Wochen nach Juist geschickt,
weil wir ständig erkältet waren und der Kinderarzt das meiner Mutter empfohlen hatte. Schlimm fand
ich schon den Gang zum Gesundheitsamt. Meine Mutter war immer zuversichtig und hat uns gut
zugeredet. Ich hatte Angst vor den 6 Wochen allein ohne Eltern und ohne die 3. Schwester, die erst 2
Jahre war. Auch sollten wir über Ostern weg sein.
Es gab lange Listen, was alles zu beachten war, meine Mutter hielt sich akribisch daran.
Wir waren katholisch und ich kannte Nonnen (Franziskanerinnen) aus Münster gut aus den
Gemeinden und Schulen
Als erstes erinnere ich mich ans Koffer auspacken – wir durften es nicht allein, die Nonne legte
Strandkleidung zu der Sonntagskleidung für Ostern und umgekehrt. Das hatte meine Mutter uns
anders erklärt. ich war sauer und meine Zwillingsschwester und ich protestierten. Das half nichts.
Negative Erinnerungen – Ungerechtigkeiten: Wir mussten viel zu lange Mittagsschlaf machen und
ruhig sein. Ich habe mich oft als Ältere für meine Schwester eingesetzt, wurde nicht gehört. Sie hat
Schlafgewandelt ist in anderen Betten gelandet und musste dafür in der Ecke stehen, oder noch mehr
schlafen, wenn wir fernsehen durften. Sie tat mit immer sehr leid. Ich wurde still und machte, was ich
sollte und sie war kindlich laut und wurde immer erwischt …
Ostern: Keine Post, keine Anrufe, keine Geschenke … Wir haben geweint. Denn: andere Kinder haben
das alles bekommen. Wie konnte ich es unserer Mutter sagen? Wir haben geschrieben: schickt uns
auch was? Heute habe ich noch den Schokoladengeruch vom Oster-Paket zusammen mit einem Teddy
für mich und einer Ente für die Schwester in der Nase. Den Teddy hat mein Sohn heute jeden Tag im
Bett – ich freue mich so über ihn, der mich getröstet hat – 40 Jahre später.
Schöne Erlebnisse. Freiheit – wir hatten Flöten mit und spielten gut, um Ostern sind wir mit einer sehr
netten Erzieherin, die auch spielte mit 4 Kindern ins Pfarrhaus allein gelaufen und haben Lieder
geprobt – mehrere Male. Die haben wir im Ostergottesdienst in Juist gespielt. Das war toll! Einfach nur
Musik machen und sich freuen und frei dorthin gehen. Wir sind die Straße mittig gelaufen und haben
uns gefreut!
Postiv: Singen im Speisesaal. Quatschlieder: das hat die junge Erzieherin erlaubt. Mädchen und Jungen
gemeinsam! Es wurde lockerer. Ich muss sagen, man hat auch die neue Zeit gespürt, 70er Jahre
Erziehung ohne Vorgaben. Wir haben eine Abschiedsdisko neben dem Heim gemacht und vorher
Fußball gespielt (Eine Nonne in Alltagskleidung dafür). Mädchen und Jungen haben sich zusammen
getan beim Zeitungstanz. Das war alles sehr schön und frei. Die jungen Erzieherinnen waren sehr gut
und nett. Es gab enge Mädchenfreundschaften – wir haben gelacht und Quatsch gemacht, ich habe mich
um ein kleineres Mädchen viel gekümmert, weil sie mir leidtat und sie mich an meine 2-jährige
Schwester erinnert hat … aber wir waren kaum am Strand, obwohl er hinter dem Haus lag.
Wir kamen blass und ängstlich voller Vorwürfe an diese lange Zeit von zu Hause weg zu sein am
Bahnhof in Münster an. Meine Mutter und mein Vater haben es nie verstanden, dass so etwa so
schlimm sein konnte und es keiner wusste. Wie ungerecht die Welt sein kann: Eure Kur war so
schlimm. Wie gut, dann ich meine Zwillingsschwester und später Freundinnen und die nette
Erzieherin hatte, das hat auch aufs Leben vorbereitet sich in Gruppen durchzuschlagen. Aber einem 9-
jährigen Mädchen sollte so etwas nicht zuzumuten sein. Wir waren ja freiwillig dort und keine
Kriegsflüchtlinge, die waren meine Eltern zum Teil. Wir hatten fast 1980 und lebten in
Westdeutschland. Demütigungen und Heimweh und Ungerechtigkeiten waren schlimm und dann kam
aber die Freiheit als Kind und Freundschaft doch durch. Das Essen kam mir nicht schlimm vor, man
musste nicht aufessen und durfte wie gesagt am Tisch singen … DANKE fürs Lesen und Teilen
Bericht: Demütigungen zu Wäsche und Kleidungsumgang
Ich hatte meine Erinnerungen schon hier notiert. Jetzt hat mir meine Zwillingsschwester noch erzählt,
dass sie in ihrem Koffer ja nur 2 Unterhosen hatte und der Rest bei mir im Großen drin war. Wir hatten
2 unterschiedlich große Koffer. Meine Mutter hat uns das erklärt und es war eigentlich ganz normal für
uns. (Ich kann mich noch an die komplizierten Packlisten erinnern, die wir zusammen mit der Mutter
abgearbeitet haben.)
Meine Schwester durfte keine Sachen aus meinem Koffer anziehen. Sie musste ihre Unterhose (sie
hatte nur 2 in ihrem Koffer gehabt) am Ende des Tages im Waschbecken auswaschen und aufhängen.
Strafe wegen Essen: Ich habe ihr auch immer Brötchen unter meinem Pulli versteckt gebracht, wenn
sie nicht mit uns essen durfte, weil sie etwas nicht essen konnte – süße Kirschsuppe mochte sie nicht,
sie sollte stärker werden, und bekam sie zusätzlich. Da wurde sie in den Schlafsaal allein geschickt zur
Strafe zum langen Schlafen tagsüber.
Bei Sonne allein im dunklen Schlafsaal
Beim schönsten Inselwetter mussten wir im dunklen Schlafsaal stundenlang zur besten Tageszeit
bleiben.
Meine Schwester war laut und kindlich fröhlich, ich wurde eher still, traurig und habe versucht mich
anzupassen trotz enormen Ungerechtigkeitsgefühl.
Heute kann ich es nicht verstehen, wie es immer bei Jüngeren im agilen Arbeiten heißt, “ empfindest
du eine Störung? Benenne sie, wir lösen sie auf“. So etwas gab es um 1980 in der eigentlich
fortschrittlichen Gesellschaft nicht. Erst jetzt mit über 50 fange ich an mein Ding zu machen und nicht
mehr um Frieden willen in Beruf und Familie, zu tun, was andere vorschreiben oder besser finden,
wenn ich es unnötig finde.
Diese Erfahrungen in der Kindheit halfen einem emanzipierten Heranwachsen überhaupt nicht. Sie
haben uns Mädchen und auch Jungen so sehr gedemütigt.
Aber in der Gemeinschaft der Kinder haben wir und gestärkt. Und es kamen so meine Erinnerung
während des Osteraufenthalts junge, freundliche, lustige Erzieherinnen, die keine alten Nonnen waren,
dazu und haben uns Freiheit und Freude in der Kur zurückgegeben.
Anonymisierungs-ID: anb