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26757 Borkum

Es gab ein Kommando und wir mussten alle gleichzeitig die Zähne putzen.


Von: D.W.
Ich saß im Auto und fuhr nach Hause. Wie immer hatte ich meinen Lieblingssender
eingeschaltet und hörte den WDR. Es wurde von einer Studie berichtet – wenn ich
das jetzt noch recht erinnere – in der es um die Kinderlandverschickung und
Kuren für Kinder ging. Und plötzlich wurde die Insel Borkum genannt und mir
flossen die Tränen. Ich musste rechts ran fahren und mich erst einmal sammeln.
Natürlich wusste ich noch, dass ich von der Telefonzelle aus meine Mama
angerufen habe und geweint habe und unbedingt nach Hause wollte. Ich wollte für
immer lieb sein und nie wieder etwas falsch machen. Ich war zurück geworfen auf
ein Lebensjahr von ca. neun Jahren. Leider kann ich meine Mutter nicht mehr
fragen, da sie bereits gestorben ist. Ich erinnere mich, dass wir im Jugendamt
gewesen sind und meine Mutter unbedingt wollte, dass ich schöne Ferien habe,
damit sie sich darum kümmern kann, dass wir eine Wohnung finden. Ich erinnere
noch, dass ich es zwar nicht so toll fand alleine wegfahren zu müssen, aber ich
erinnere auch, dass alle anderen Kinder auch alleine unterwegs waren und ich das
deshalb gar nicht mehr so verkehrt fand. Ich erinnere, dass wir angekommen sind
und es nur ein großes Zimmer mit vielen Betten gab und einen gefliesten Raum mit
ganz vielen Waschbecken nebeneinander und Zahnbürsten, die alle in Reih und
Glied stehen mussten, so wie wir Kinder. Es gab ein Kommando und wir mussten
alle gleichzeitig die Zähne putzen. Es gab roten, ungesüßten Tee und ein
Butterbrot mit Marmelade oder so ähnliches Zeug. Es gab Mortadella zum
Frühstück. Es war fürchterlich kalt überall und niemand, der ein liebes Wort an
irgendjemanden richtete. Ich kam aus einem prügelnden Vaterhaushalt und fand die
Prügel nicht so schlimm. Meine Mutter ist vor ihrem Mann geflohen und hat meinen
Bruder und mich dort gelassen, sie war also nach altem Scheidungsrecht, schuldig
und durfte die Kinder nicht mitnehmen. Mich hat sie aber irgendwie bekommen. Ich
erinnere noch eine Frau P. vom Jugendamt oder Sozialamt, die war immer
sehr nett zu uns. Ich erinnere noch, dass wir auch aus der Wohnung fliehen
mussten, weil der neue Freund meiner Mutter ein Trinker gewesen ist und wenn er
betrunken gewesen ist, dann hat er gebrüllt und Sachen kaputtgeschlagen. Nach
diesen fürchterlichen „Ferien“ haben wir im Frauenhaus gewohnt bis wir ein Zimmer
beziehen konnten. Ein Zimmer mit einer eigenen Ausziehcouch für meine Mutter und
mich. Mein Bruder ist mit meinem Vater ins Ausland gezogen und wir haben ihn
lange Zeit nicht wieder gesehen. Es hieß, dass mein Vater nicht mehr nach
Deutschland kommen konnte, weil er unterhaltspflichtig gewesen wäre. Ich habe
das alles bis heute nicht komplett verstanden. Es sind viele Traumata aus der
Kindheit geblieben, aber Borkum war mit eines der größten. Meine erste Therapie
machte ich im Alter von 21 Jahren. Jede Woche weinte ich mir eine Stunde lang
die Augen aus dem Kopf um zu verstehen warum ich so war wie ich war. Meine
zweite Therapie machte ich wesentlich später, als ich bereits auf der Suche nach
meinen Erinnerungen war. Leider waren die oft schmerzhaft und selten sehr schön.
Meinen Bruder fand ich nach 32 Jahren Trennung wieder. Wir hatten – für mich –
wundervolle fünf gemeinsame Jahre, in denen wir viele Urlaube zusammen verbracht
haben. Leider war auch er traumatisiert. Er nahm sich vor acht Jahren das Leben.
Auf der – natürlich – Hauptschule hieß es, dass aus mir nichts werden könne,
weil ich ja das Kind von geschiedenen Eltern sei und weil mein Vater ein Itaker
ist. Eine Lehrerin riet meiner Mutter jedoch mich auf eine andere Schule zu
schicken, weil ich auf jeden Fall auf der Hauptschule nicht richtig gefordert
wäre. Ich bekam zunächst den Hauptschulabschluss, danach machte ich eine Lehre
als Verkäuferin, bekam mein erstes, wundervolles Kind, mein zweites,
wundervolles Kind und holte, als die beiden zur Schule gingen, mein Abitur nach.
Anschließend brach ich zwei Lehramtsstudiengänge ab, weil mir viele Kinder leid
getan haben und das System einfach eine Katastrophe war und auch immer noch –
teilweise – ist.
Anonymisierungs-ID: ace

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