Suche
Suche

26757 Borkum, 1973

Nach dem Aufenthalt in Winterberg fingen dann meine Verhaltensauffälligkeiten an.

59955 Winterberg, 1974

Von: P.H.

Ich war im Sommer 1974 zur Verschickung im St. Ursula-Haus bei Nonnen in Winterberg. Damals war ich 7 Jahre alt und wohnte mit meinen Eltern in Krefeld am Niederrhein.
Es war meine zweite Verschickung, nachdem ich im Jahr zuvor auf Borkum war. An die Zeit auf Borkum kann ich mich allerdings gar nicht mehr erinnern, außer daran, dass das Haus auf Borkum von außen sehr dunkel aussah. Die Erinnerung daran ist wohl sehr tief in meinem Kopf vergraben und vielleicht habe ich sie aus reinem Selbstschutz vergessen.

Nach Winterberg kam ich also im Jahr darauf mit dem Zug, zusammen mit vielen anderen Kindern. Als Vorbereitung brachte meine Mutter lauter kleine weiße Schildchen in meinen Kleidern an, auf denen in verschnörkelter, roter Schrift mein Name draufstand. Damals fand ich das Thema „Verschickung“ noch spannend. Da ich als Kind im Kindergarten immer die Kleinste und Schmächtigste von allen war, wurde ich über meine Kinderärztin und die Familienfürsorge Krefeld, bei der meine Oma damals arbeitete, in die Verschickung gelotst, denn ich war Stammkundin bei der Kinderärztin wegen meiner ständigen Bronchitis.
Auf der Zugfahrt wurde viel geweint unter den anwesenden kleineren Kindern, was mich unglaublich verunsichert hatte, weil ich nicht wusste, was da jetzt gerade passiert und was uns bevorsteht. Ich war ja davon ausgegangen, dass die Reise etwas Schönes sein würde. Viele Kinder waren einfach nur wie versteinert. Im Heim selber kam ich dann in die Gruppe von „Schwester V.“. Sie war, nach meiner Erinnerung, recht ruppig, aber insgesamt noch die Zugänglichste von allen.

Und ab hier melden sich meine Erinnerungen sehr deutlich. An Dinge, die ich essen musste, ob ich wollte oder nicht. Auch, wenn sie schon kalt geworden waren. Und bis zum Erbrechen und dann nochmal. Es gab damals einen „Dornröschenpudding“. Irgendein warmes, rosafarbenes, extrem süßes Zeug. Der wurde mir immer und immer wieder reingezwungen. Dazu Erbsen- und Linsensuppen, die ich sowieso auch vorher schon nie runterbekommen hatte. Solche Suppen kann ich auch heute noch nicht riechen, ohne dass mich sofort eine heftige Übelkeit an diese „Zwangsernährung“ erinnert. Auch das total fette Fleisch dort mit Schwarte war und ist für mich eine absolute Horrorerinnerung. Und immer lag ein muffiger Geruch in den Gängen nach Kohl und anderem Gekochten, von dem ich wusste, dass ich es nicht runterbringen würde.

Mehrmals musste ich während der Zeit im Kurheim allein mit einer Betreuerin im sonst leeren Speisesaal so lange und oft gefühlt stundenlang vor meinem Teller sitzen bleiben, bis ich aufgegessen hatte. Das hatte langfristig zur Folge, dass ich auch heute alleine in kein Restaurant oder Café gehen und etwas essen oder trinken kann, ohne den Eindruck zu haben, auf dem Präsentierteller zu sitzen und dass ich von allen angestarrt werde.

Hatte ich nachts Heimweh und deswegen im Bett gelegen und geweint, wurde ich barfuß in das große, dunkle Gemeinschaftsbad eingeschlossen, das nachts sowieso immer abgeschlossen war, denn außer der Reihe auf die Toilette gehen war uns untersagt. Ich erinnere mich, dass ich einmal nachts, als ich dort eingeschlossen war, durch das vergitterte Fenster des Badezimmers ein Feuerwerk gesehen habe. Das hat meine Angst im Dunkeln aber auch nicht wirklich abgeschwächt. In dem kalten Badezimmer roch es nachts abgestanden und nach Zahnpasta und die teils nur halb geschlossenen Türen der einzelnen Toilettenzellen haben mich total geängstigt. Ich habe überall beängstigende Schatten gesehen. Noch heute wird mir übel, wenn ich in ein kaltes Bad komme, in dem es deutlich nach Zahncreme riecht.

In unserer gemischten Gruppe gab es einen Jungen, der nachts ins Bett gemacht hat. Ich erinnere mich daran, dass es mehrere Nächte gab, in dem die Betreuerinnen bei vollem Licht den Jungen aus dem Bett holten und kontrollierten, ob er wieder eingenässt hatte. Wenn ja, war das Geschrei der Schwestern groß und wir anderen hatten unglaubliche Angst. Es hat uns ja auch keiner getröstet. Hatte ich wegen des Geschreis Panik und geweint, wurde auch ich gleich wieder im Gemeinschaftsbad eingesperrt. Somit fing ich an, feine Antennen für die Stimmungen dort zu entwickeln. Konflikte, Geschrei, Schimpfe machten mir unglaublich Angst. Auch heute bin ich absolut nicht konfliktfest und breche in Panik aus, wenn es um mich herum laut und aggressiv wird. Im Heim habe ich fortan immer versucht, es allen recht zu machen und nur ja nicht aufzufallen. Dazu muss ich noch sagen, dass ich vor ein paar Jahren in eine ähnliche Situation geriet, als ein hilfloser Mitpatient von mir von 2 Schwesternschülerinnen aufs Übelste erniedrigt wurde. Ich konnte zu dieser Zeit aufgrund eines Schlaganfalls nicht sprechen und somit auch nicht einschreiten und den Mann unterstützen. Durch diese Hilflosigkeit und das Gefühl des nicht-einschreiten-könnens kamen schlagartig schlimme Erinnerungen an meine Zeit in Winterberg wieder hoch, aber auch schlimme Schuldgefühle.

An den Wochenenden fand im St. Ursula meist eine Art „Kinder-Party“ statt. Da gab es zur Abwechslung dann Kuchen und Limonade für alle, außerdem lief ein Kassettenrekorder oder ein Radio mit Musik, zu der wir durch den Raum hüpfen und springen durften. Hatte der oben genannte Junge aber unter der Woche ins Bett gemacht, wurde unserer ganzen Gruppe verboten, an diesem Partynachmittag teilzunehmen und wir mussten in unserem Schlafsaal bleiben. Für den betreffenden Jungen muss das furchtbar gewesen sein. Die Scham, ins Bett gemacht zu haben und wahrscheinlich auch die Schuldgefühle, dass die ganze Gruppe wegen ihm im Kollektiv dafür bestraft wurde. Ein schlimmer Gedanke, was dem Jungen widerfahren war, dass er überhaupt ins Bett gemacht hat. Psychologisch hatte das damals ja leider keiner hinterfragt, sondern den Druck auf den Jungen nur noch viel mehr aufgebaut. Ungerechtigkeit und unfassbare Demütigungen an allen Ecken.

An den Wochenenden durften wir Karten und Briefe nachhause schicken. Da ich noch nicht richtig schreiben und lesen konnte, musste ich notgedrungen der Betreuerin diktieren, was ich meinen Eltern mitteilen wollte. Ich weiß noch sehr genau, dass ich in den Karten und Briefen darum gebettelt hatte, dass man mich heimholt, dass ich Heimweh hätte, dass es in dem Heim ganz furchtbar sei, dass meine Mama mich bitte-bitte besuchen kommen sollte. Viele Jahre später habe ich mit meiner Mutter mal über den Aufenthalt in Winterberg gesprochen. Sie erinnerte sich, dass sie die alten Postkarten tatsächlich noch hätte. Wir haben sie dann gemeinsam gelesen und waren fassungslos, denn auf den Karten stand: „dass das Wetter schön, die Betreuer sehr nett und der Ausflug auf den Kahlen Asten mit seinen vielen leckeren Blaubeeren ganz toll gewesen war!“ Seitdem fühlt sich meine Mutter bodenlos schuldig, dass sie sich von meiner Oma, die ja bei der Familienfürsorge mit an der Quelle für meine Verschickung saß, hatte bequatschen lassen, weil „mir so eine Kur sicher nicht schaden würde“. Meine Oma gehörte noch der Generation an, die sich keine Gedanken darüber gemacht hat, ob es einem Kleinkind vielleicht schaden könnte, wenn es wochenlang allein und ohne seine Eltern von seinem Zuhause weg ist, drangsaliert wird und vor Heimweh und Angst eine komplette Wesensänderung durchmacht. Auch meine Mutter war Anfang der 50er Jahre verschickt worden. Das habe ich erst vor ein paar wenigen Jahren von ihr erfahren. Sie kann aber nicht darüber sprechen. Und auch sie hatte damals schon ein mieses Gefühl dabei, mich in die Verschickung zu geben. Gegen die rigide Haltung meiner Oma, ihrer Mutter, kam sie mit Ende 20 aber nicht an.

Meine Mutter hatte mir in dieser Zeit, die ich dort war, mal ein Paket geschickt, mit Süßigkeiten drin. Ich weiß noch, dass mein Mund wohl ein großes „O“ geformt hat, als der Inhalt sofort an alle anderen anwesenden Kinder verteilt wurde, noch bevor ich selber schauen durfte, was in dem Paket drin ist. In meiner Erinnerung „schwebt“ das Paket einfach von mir weg und die Kinder um mich herum waren selig, weil es außer der Reihe Süßes für alle gab.

Ganz fies in Erinnerung sind mir auch die Spielenachmittage geblieben. Diese waren – rückblickend – einfach nur traumatisch und entwürdigend und das nicht nur für mich. Wohlgemerkt: ich war 7 Jahre alt! Das erste Spiel war etwas in der Art von „Stühle schnüffeln“. Alle Kinder saßen draußen auf dem Gang oder standen wartend herum. Man (ich) wurde nacheinander in einen Raum gerufen, die Tür wurde geschlossen und man (ich) musste sich auf einen von mehreren, nebeneinanderstehenden Stühlen setzen, den man sich aussuchen durfte. Dann wurde man aufgefordert, wieder aufzustehen und sich zu den Betreuerinnen zu stellen. Danach wurde eine weitere Betreuerin von draußen reingerufen („Kannst reinkommen“), die sich vor den ersten Stuhl kniete, daran tief und intensiv schnüffelte und nach und nach jeden weiteren Stuhl mit der Nase absuchte. Am Ende stand sie auf und zeigte zielstrebig auf den Stuhl, auf dem ich kurz vorher gesessen war. „Hier hat sie gesessen!“, meinte sie dann entschieden – Ich war völlig beschämt, weil ich in dem Moment wirklich panisch dachte, ich würde stinken! Wie konnte diese Frau erschnüffeln, wo ich gesessen hatte??? Erst Jahre später habe ich das System dieses Spieles durchschaut, aber ich erinnere mich immer noch mit Grausen an meine Angst, dass ich „müffeln“ könnte. Das hat bis heute ebenso tiefe Spuren bei mir hinterlassen.

Ein weiteres, für mich sehr schlimmes Spiel war das mit den Schaumküssen. Interessanter Weise erinnert sich auch eine andere Leidensgenossin, die auch in Winterberg war und sich in einer der Facebook-Gruppen zum Thema geäußert hatte, daran. Auch hier standen und saßen wir alle wieder in einem Gang vor einer verschlossenen Tür und wurden nacheinander reingerufen. Keines von uns Kindern wusste, was uns hinter der geschlossenen Tür erwartete. Jedes Mal, wenn ein Kind in den Raum gerufen und dann die Tür geschlossen wurde, erscholl umgehend ein furchtbarer Schrei! Die meisten von uns haben sich wahrscheinlich in dem Moment in die Hose gemacht, vermute ich. Als ich an der Reihe war, kam ich in einen komplett dunklen Raum und die Tür schloss sich sofort hinter mir. Im selben Moment drückte mir jemand ziemlich feste einen Schaumkuss mitten ins Gesicht und raunte mir ins Ohr: „Los, jetzt schrei mal ganz laut!“ – Natürlich habe ich das gemacht, und sicher nicht nur, um der Aufforderung nachzukommen. Ich war ja völlig überrascht und hatte immer noch die Panik von der Warterei vor der Tür in den Knochen. Der einzige positive Effekt aus diesem Spiel ist, dass ich mir das Sterben heutzutage ähnlich „einfach“ wünsche. Keine Ahnung zu haben, was einen erwartet, aber dann hinterher – wenn es ein „Hinterher“ gibt – denken zu können: „Wie, das war alles? War ja gar nicht so schlimm wie befürchtet“. Denn wie Sterben fühlte sich die Angst in dem Moment garantiert an. Warum tat man kleinen Kindern sowas an? Wer konnte Spaß an so perfiden Spielen haben? Wir, die nicht wussten, was passieren würde, sicher nicht.

Der schlimmste Albtraum für mich persönlich war der Kinderspielplatz, links hinter dem Haus, ein bisschen abseits gelegen am Hang. Dort gab es eine Holztrommel, so ein Laufrad, in dem die Kinder wie die Hamster rennen konnten. Während meiner Zeit dort hatten sich zwei größere Kinder – ich weiß nicht mehr, ob Jungs oder Mädchen – einige Finger gebrochen, weil sie mit den Fingern zwischen die einzelnen Holz-Spalten geraten waren, während sich die Trommel drehte.

Ich selber hatte in der 3. oder 4. Woche meines Aufenthalts dann final auch einen sehr schweren Unfall. Es gab dort auf dem Spielplatz einen Kletterbogen aus Metall, auf dem ich eines nachmittags saß, während es geregnet hatte. Es gibt heute noch ein Gruppenfoto davon, auf dem man die Höhe des Gerüstes erahnen kann. Ich war ganz allein dort! Von Betreuerinnen keine Spur. Das weiß ich, weil es nach dem Unfall längere Zeit gedauert hatte, bis ich gefunden wurde, weil irgendwer erst eine Betreuerin im Haus suchen musste. Als ich jedenfalls oben auf einer der höchsten Stangen saß, die Füße auf der nächsten, rutschte ich durch die Nässe ab, schlug in der Luft wohl einen Purzelbaum und landete mit dem Gesicht auf den Steinplatten darunter. Damals war man leider noch nicht so schlau, Gras unter ein Klettergerüst zu pflanzen oder Gummimatten zu verlegen. Jedenfalls habe ich mir mit den Schneidezähnen an 2 Stellen die Unterlippe komplett durchbissen. Die Narben sind auch heute noch zu sehen. Damit war für mich aber zumindest diese Kur dort abrupt vorbei, denn durch die komplett vernähte und gepflasterte Schnute konnte ich danach monatelang gar keine feste Nahrung mehr zu mir nehmen und musste zumindest die erste Zeit, an dem großen Pflaster vorbei, mit einem Löffel mit flüssiger Nahrung ernährt werden, wodurch ich natürlich nicht gerade zunehmen konnte, was ja eigentlich der Sinn dieser Verschickung gewesen sein sollte. Für meine Mutter war es eine Tortur, mich später zum Fäden ziehen und mehreren Nachbehandlungen zum Kinderarzt zu begleiten und mehr als einmal ist sie dabei umgekippt. Vor Kurzem hat sie mir erzählt, dass mich ein fremder männlicher Zugbegleiter damals bis zu meinen Eltern vor die Wohnungstür gebracht, meiner Mutter meinen Koffer in die Hand gedrückt und sich dann ohne viele Worte umgedreht hatte, um wieder zu gehen.


Nach dem Aufenthalt in Winterberg fingen dann meine Verhaltensauffälligkeiten an. Ich stand nachts zuhause in meinem Bett und zog bahnenweise die Tapeten von der Wand. Schlafen konnte ich nur noch im Sitzen im Bett, indem ich eine schützende Bettenburg mit allen Decken und Kissen, die ich finden konnte, um mich herum baute. Ich konnte an keiner Vereinsfahrt vom Kinderturnen teilnehmen, ohne als heulendes Elend zu enden, weil ich so Heimweh und Verlustängste hatte. Ich schämte mich jahrelang für meine großen Narben an der Lippe. Vor Jahren hat mir meine Mutter erzählt, dass sie mich aus psychologischen Gründen kurz nach der Kur in einem Malkurs angemeldet hatte, um von Fachleuten einschätzen zu lassen, warum ich so „komisch düstere“ Bilder malte. Egal, wo meine Eltern mich „nach der Zeit in Winterberg“ allein lassen wollten: ich war sofort durch den Wind und wollte nicht ohne zumindest einen Elternteil sein. Auch heute ist Alleinsein für mich die schlimmste Strafe, sodass ich das Alleinsein auch bis heute nie genießen kann.

Da ich in meiner Jugend mit meinen Eltern nach Bayern und mit Mitte 30 wieder zurück nach NRW gezogen bin, habe ich etwa vor 15 bis 20 Jahren Winterberg wieder mal besucht, weil ich die Gelegenheit nutzen wollte, wenn schon in der Nähe zu wohnen, dann auch gleich mit der Vergangenheit abschließen, denn ich hatte bis dato immer wieder schlimme Flashbacks. Also fuhr ich eines Tages nach Winterberg.
Zuerst habe ich das Gebäude gar nicht gefunden. Als Kind hatte ich eine lange Zufahrt zum Gelände in Erinnerung. Als ich jetzt wieder dort war, war die Siedlungsbebauung gefühlt schon recht nah an das Gelände der Kurklinik rangekommen. Die Klinik lag irgendwie einfach mittendrin. An den Eingangsbereich erinnerte ich mich aber sofort. Inzwischen war aus dem Kinderkurheim ein Mutter-Kind-Kurheim geworden. Ich wusste auch noch, dass sich der Eingang zur Kapelle im Eingangsbereich befand. Also bin ich ins Gebäude gegangen, auf der Suche nach jemandem, dem ich erzählen konnte, dass ich Anfang der 70er dort zur Kinderkur war und einfach mal schauen wollte, wie das alles inzwischen aussah.
In der Eingangshalle traf ich auf eine uralte, sehr nette Nonne, der ich von Schwester V. erzählte. Sie sagte, ja, Schwester V. gäbe es tatsächlich noch, aber sie läge leider aktuell im Sterben, es könne sich leider nur noch um wenige Tage handeln, deswegen wäre es leider auch nicht möglich, dass ich sie besuche. Ich war total erstaunt, dass sie immer noch lebte. Damals Anfang der 70er kam sie mir schon steinalt vor.

Als ich von dem Spielplatz erzählte, auf dem ich diesen schlimmen Unfall hatte, hat mich die Schwester gefragt: „Wollen Sie den Spielplatz noch mal sehen?“ Und ich: „ES GIBT IHN NOCH????“ – Da meinte sie: „Ja, den gibt es noch. Sie haben Glück, er soll in der nächsten Woche (!) komplett abgebaut werden. Wir haben ja jetzt einen schönen neuen Spielplatz für die Kinder hier.“ Der Moment war und ist bis heute Gänsehaut pur. Als hätte das alles auf mich gewartet, bevor es verschwindet!
Ich war total fassungslos! Wir gingen hinten aus dem Gebäude raus in Richtung ehemaligem Spielplatz. Im Park konnte man viele Kinder mit ihren Müttern ausgelassen lachen hören und spielen sehen. Was für ein Unterschied gegenüber damals!

Als wir zu dem alten Spielplatz kamen, konnte ich sehen, dass die einstmaligen Geräte fast im hohen Gras verschwunden waren. Als Erwachsene kamen mir die Geräte so winzig vor. Auch das Klettergerüst war noch da und ich wusste nicht, ob ich Lachen oder Brechen sollte. Die alte Nonne, die mich netterweise dorthin geführt hatte, hatte dann wohl gemerkt, dass mir die Erinnerungen unglaublich zu schaffen machen und hat mich mit meinen Emotionen allein gelassen, was ich sehr nett fand. Ich habe mir ein paar Minuten Zeit gelassen, um mich endgültig von diesem Ort zu verabschieden, der jetzt, als ein Heim, wo Kinder mit ihren Müttern ausgelassen toben können, so völlig seinen Schrecken verloren hatte. Ich dachte wirklich, das war´s jetzt, jetzt kann ich endlich mit dem Thema abschließen und loslassen.

Pustekuchen!

Vor 2 Jahren bin ich schwer krank geworden. Erst körperlich, dann psychisch. Mit der Depression kamen plötzlich, wie kleine, fiese Unkrautpflanzen, viele Erinnerungen sehr deutlich wieder in mein Gedächtnis zurück gewuchert. Meine Unsicherheit von früher vor fremden Menschen und Orten meldet sich auf einmal wieder sehr deutlich. Meine Anhänglichkeit an meinen Partner wird immer schlimmer und panischer. Während meiner dunkelsten Depressions-Schübe hat er sehr darunter zu leiden, dass ich so anhänglich, aber auch extrem misstrauisch bin. Läuft etwas sehr gut für mich, bezweifele ich sofort, dass dieses Glück länger anhält. Ich bin ängstlich, kritisch und vorsichtig. Außerdem ist mir immer wichtig, alles richtig zu machen. Nur ja nicht negativ aufzufallen, Ärger zu bekommen, ausgeschimpft zu werden. Im Gegenzug bin ich glücklich mit dem, was ich erreicht habe und habe nie darum gekämpft, dass mein Tun auch entsprechend honoriert wird. Hauptsache: Ruhe und Frieden!

Für 2022 steht bei mir die erste psychosomatische Reha in meinem Leben an. Leicht vorstellbar, was es jetzt schon für ein Stress für mich ist, daran zu denken, dass ich dann 5 Wochen allein bin. Wieder in einer Einrichtung, unter völlig fremden und sicher teils auch kranken und verunsicherten Menschen, wie ich oft einer bin, auch wenn mein Umfeld das kaum bis gar nicht mitbekommt. Ich werde mit zunehmendem Alter empfindlicher, was Gerüche angeht, denn bestimmte Gerüche lösen sofort unglaublich beklemmende Erinnerungen an Alleinsein, Zwang, Angst und psychische Gewalt aus. Ich habe nie daran gezweifelt, ob mich meine Erinnerungen vielleicht trügen, ob ich mir vieles vielleicht eingebildet habe, das möchte ich unbedingt dazu erwähnen. Auch wenn ich vieles vergessen habe – was sicher auch gut ist.

Durch die Facebook-Gruppen „Kinderverschickungen NRW“ und „Verschickungskinder Deutschland“ bin ich auf viele ähnliche Berichte gestoßen, was mir die Gewissheit gibt, nicht allein zu sein mit meinem Eindruck, dass mir meine eigene Verschickung absolut nicht gutgetan hat, sondern das Gegenteil der Fall ist.

An weitere Details erinnere ich mich komischerweise gar nicht. Außer an ein Kneipp-Becken, durch dessen eiskaltes Wasser wir warten mussten und an den Ausflug auf den Kahlen Asten ist da keinerlei Erinnerung. Nichts Schönes. Nur die schlimmen Dinge, die aber umso deutlicher.

Eine Nachfrage bei den Ursulinen in Bielefeld hat, nachdem ich vor Kurzem mit meiner eigenen Aufarbeitung begonnen habe, nur ergeben, dass es keine alten Aufzeichnungen aus meiner Zeit in Winterberg gibt. Krankenkassen heben die Unterlagen auch nicht so lange auf. Alle meine Anfragen wurden sehr freundlich und mit bedauernden Worten beantwortet, aber leider ohne entsprechendes Ergebnis.

Interessanterweise sind viele ehemalige Verschickungskinder im Laufe ihres Lebens, so wie ich seit einiger Zeit auch, in soziale Berufe gewechselt, wo sie Menschen Gutes tun können, ihnen helfen können, nicht so allein gelassen zu sein, wie wir es waren, Gerechtigkeit verschaffen können.

Viele Betroffene, so lese ich täglich in den FB-Gruppen, haben ihre Erinnerungen komplett verdrängt und nur noch ein ungutes, nicht näher definiertes mieses Gefühl bei der Erwähnung des Themas Kinderverschickung. Andere, meinem Eindruck nach aber wenige, haben tatsächlich gute Erinnerungen an ihre Zeit im Kurheim. Wieder andere waren der sofortigen Trennung von Geschwistern, furchtbaren Demütigungen, Gewalt, Psychoterror, Zwangsmaßnahmen und auch sexueller Gewalt ausgesetzt. Es gibt tatsächlich auch Berichte über Todesfälle. Was für ein dunkles Kapitel unserer Kindheit und Jugend! Diese „schwarze Pädagogik“ haben wir alle damals zu spüren bekommen. (siehe auch die Anlehnung an das Buch: „die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“)

Der Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen e.V. / Anja Röhl bietet auf der Seite www. Verschickungsheime.de umfassende Infos und Hilfe für Betroffene an. Man kann seine eigene Geschichte dort veröffentlichen, man findet Gleichgesinnte, es gibt ein Forum mit verschiedenen Themen- und Orts-Bereichen, man kann dem Verein beitreten, als zahlendes oder als Fördermitglied. Anja Röhl und andere haben sehr traurige, aber auch sehr detaillierte Bücher zum Thema veröffentlich, in denen Leidensgenoss*innen ihre Geschichten erzählen durften.

Aktuell kümmern sich auch Detlef Lichtrauter (detlef.lichtrauter(at)akv-nrw.de) und viele weitere Vereinsmitglieder darum, in der Politik und bei den damaligen und heutigen (Kosten-)Trägern Gehör zu finden. Täglich werden es in den Facebook-Gruppen mehr Betroffene, die gleiches oder ähnliches Leid erfahren haben. Es bilden sich Selbsthilfegruppen. Man wird nicht allein gelassen mit seinem Schicksal!!! Aber die dunklen Erinnerungen und die „Macken“, die ich bin heute habe und die teils mein Leben bestimmen, die kann mir leider niemand nehmen.

11.11.2021

Anonymisierungs-ID: aex

Newsletter-Anmeldung

SPENDEN

Vielen Dank, dass Sie sich für eine Spende interessieren:

AKV NRW e.V.

IBAN DE98 3206 1384 1513 1600 00

Für eine Spendenquittung bitte eine E-Mail an:
Detlef.Lichtrauter@akv-nrw.de