32105 Bad Salzuflen, 1965

… und schlug mich so hart und lange, mein Eindruck ist, ich war bewusstlos

Von: A.B.V.

Name des Trägers: Bundesbahn

Dauer der Verschickung: 6 Wochen

Bericht: Ich war 5 Jahre alt, mein Vater hatte einen Herzinfarkt erlitten und war im Krankenhaus. Meine Mutter nahm den Ratschlag des Arztes an, mich zur Entlastung der Situation auf “Erholung” zu verschicken. Ich war deutlich untergewichtig, aber sehr lebhaft, nach heutiger Sicht ein ADHS-Mädchen.

Das war ein großes Problem im Heim. Ich hatte eine schlechte Impulskontrolle und große Unruhe. Auch hatte ich kurze Haare und sah eher aus wie ein Junge. Über die ganze erinnerbare Zeit wurde ich dafür ausgeschlossen vom Spielzeug – ich erinnere mich an Schaukelpferde, permanent herabgesetzt und isoliert. Bei jeder Gelegenheit erhielt ich Schläge auf den Po und musste abseits bleiben. An dunkle Räume oder Flure kann ich mich nicht erinnern, ich habe die Wahrnehmung, es war immer im Aufenthaltsraum und immer mit “schäm dich”.

Einmal täglich kam die Heimleiterin und verteilte an brave Kinder Gummibälle. Je nach Bravheit 3,2,1 Stück. Ich bekam niemals eines. Das wird am Schluss noch wichtig.

Ich hatte eine Essstörung und konnte nie die Portionen essen. Ich musste im Essraum sitzen bleiben, bis ich aufgegessen hatte. Das dauerte gefühlt Stunden oder gar bis zur nächsten Mahlzeit. Ich erinnere mich, dass noch ein Junge im Essraum saß und da kann ich bestätigen, dass er in den Teller brach und gezwungen wurde, das Erbrochene zu essen.

Eine “Tante”, die gehässigste, sagte häufig morgens “heute Nacht habe ich wieder den Zug pfeifen hören, der Euch nach Hause bringt”. Ich – und wohl mehrere – haben geweint und sie hat lauthals gelacht.

Erinnern kann ich mich an ein Mädchen, das wohl Bettnässerin war. Jeden Morgen bekam sie im Waschraum die nasse Unterhose ausgezogen und wurde auf den Po geschlagen.

Insgesamt war es immer ein Stress mit den Toiletten-Bedürfnissen. Wir durften nachts nicht zur Toilette gehen, hatten aber, ich glaube immer zu zweit, einen Nachttopf. Meiner ist einmal fast übergelaufen, ich bin durch den Raum zu einem anderen Topf gegangen, wurde ertappt und geschlagen.

Dann haben die “Tanten” mich eines Tages aus dem Mädchenschlafraum in den Jungenschlafraum umgezogen und ein sehr stiller, schüchterner Junge kam in den Mädchenschlafraum. Ich hatte nun mit einem Jungen zusammen einen Nachttopf. Ich musste nachts Stuhl absetzen und der Junge warf seinen Hausschuh in den Nachttopf. Es sollte wohl ein Spaß sein. Am Morgen zum Wecken schrie die Tante “wer war das” und der Junge schrie sofort: “sie”. Die Tante klappte meine Beine bauchwärts und schlug mich so hart und lange, mein Eindruck ist, ich war bewusstlos.

Meine nächste Erinnerung ist, dass ich mit hohem Fieber und Erbrechen in einer Krankenstation lag. Bei einer traumtherapeutischen Aufarbeitung scheint es mir sicher, dass ich eine Entkörperungserfahrung hatte und wohl beinahe gestorben wäre. Das kann ich nur anhand der inneren Bilder und Lichtwahrnehmungen belegen. Tatsache ist, dass ich gefühlt sehr lange auf der Krankenstation war, was ja ganz gut für mich war, die Krankenschwestern waren netter und haben mich nicht mit dem Essen drangsaliert. Das Essen scheint mir in der Erinnerung auch viel besser, mit Pudding und so.

Beim Zurückkommen war ich wieder im Mädchenschlafraum und in meiner Erinnerung waren die Tanten nun um einiges netter. Ich glaube, die langen 6 Wochen waren dann auch schon fast vorbei.

Ich weiß noch, dass ich immer dachte, dass mein Vater tot sei und ich sei schuld, und das ist jetzt die Strafe. Und das Wort 6 Wochen war für mich ganz unfassbar und grenzenlos.

Am letzten Tag bekam jedes Kind eine ganze kleine Hand voll Gummibälle von der Leiterin, wenn man ihr versprach zu Hause zu sagen: “schön wars und ich will wiederkommen.”

Als ich als Erwachsene meiner Mutter erzählte, wie furchtbar das Heim war, sagte sie: “Komisch, als ich dich am Zug abgeholt habe, hast du gesagt: Schön wars und ich will wiederkommen.”

Anonymisierungs-ID: akp

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