Von: P.W.
Vor meiner Einschulung am 1.4.1962 war ich für 6 Wochen zu einer Kinderkur in einem Kloster in Sandebeck. Wann genau weiß ich nicht mehr (1961 oder 1962). Die Kur sollte zur Kräftigung vor der Einschulung durchgeführt werden. Eine Erkrankung hatte ich nicht. Ein Nachbarjunge war zur gleichen Zeit in dem Kloster. Es herrschte eine strenge Trennung von Jungen und Mädchen. Wenn wir bei einem Spaziergang eine Jungengruppe von weitem sahen, mussten wir Mädchen, in der Begleitung von einer Nonne, vom Weg abbiegen. Da ich großes Heimweh hatte, war das schlimm für mich, weil der einzige Mensch, den ich kannte, unerreichbar war. Trost gab es von niemandem.
Das Thema „Essen“ war auch sehr schwer. Wenn ich etwas nicht mochte, musste ich es aufessen. Ich mochte z.B. keinen rohen Schinken essen. Das Brot mit dem Schinken konnte ich nicht runterschlucken. Ich wurde gezwungen, zu schlucken. Nach dem Runterwürgen kam durch Erbrechen alles wieder raus. Diese Situation ist wie eingebrannt in meiner Erinnerung. Heute kann ich zum Glück trotzdem Schinkenbrote essen. Beim Essen war es immer so, wenn man etwas nicht essen konnte, musste man – auch oft alleine – so lange am Tisch sitzen, bis das Essen gegessen war und wieder ausgebrochen im Teller landete. Ich habe diese Qual nicht verstanden, weil nichts daraus gelernt werden konnte. Es war immer der gleiche Ablauf. Ich wollte nicht ungehorsam sein, aber wenn das Essen nicht durch den Hals wollte, weil ich es verabscheute, half aller Zwang nicht, dass es beim nächsten Mal anders sein konnte.
Die Erlebnisse haben mir so sehr zugesetzt, dass ich einmal in der Nacht eine furchtbare Not hatte. Ich wachte auf und merkte, dass aus meiner Blase und meinem Darm alle Inhalte ausflossen, in das Bett und ich konnte nichts dagegen tun. Ich hatte das Gefühl, mich vollständig aufzulösen. Am Morgen wurde das Malheur entdeckt. Ich habe keine Erinnerung mehr daran, wie ich aus dem Bett gekommen bin, wer mich gewaschen hat, usw. Die Erinnerung setzt erst wieder ein, als ich zu einem Gespräch mit einer Nonne musste. Diese sagte dann zu mir:“ Du hast wohl den Teufel im Leib“. Was danach geschah, weiß ich nicht mehr.
Ich weiß auch nicht, ob ich zu Hause von all dem erzählt habe. 1961/62 war eine Zeit, in der alle froh waren, die Strapazen des Kriegs hinter sich gelassen zu haben. Mein Vater hat Stalingrad und die russische Gefangenschaft überlebt. Die Familie war aus Pommern vertrieben und in Ost und West getrennt lebend. Meine Eltern hatten 4 Kinder und wenig Einkommen. Der Alltag war schwer genug, da wollte ich keinen Kummer verursachen.
Ich habe lange gedacht, dass es meine persönliche Erfahrung war. Dass ich Pech hatte, weil mir der Umgang der Nonnen mit mir nicht gut verträglich war. Ich wusste nicht, dass viele Kinder bewusst gequält worden sind.
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