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33428 Marienfeld, 1965

Nach meiner Rückkehr sprach ich nicht mehr …

67471 Elmstein, 1968

Von: J.M.

Vor einigen Jahren berichtete Report (?) in seiner Sendung über das Thema Verschickungskinder und es traf mich eine Faust in den Magen. Ungläubig schaute ich den Beitrag an mit der Erkenntnis, “das ist ja nicht nur mir so ergangen”. Ich war 1965 in Marienfeld (bei Gütersloh) und 1968 (müsste ich nachschauen) in Elmstein, Kinderheim Schafhof. Nach dem letzten Aufenthalt habe ich das Thema nie mehr angesprochen, nie mehr im Kopf gehabt. Es war “vergessen”. Heute fällt es mir schwer, darüber auch nur nachzudenken.

Ja, auch meine Eltern haben mir nicht geglaubt, was dort passiert war. Meine Eltern, Jahrgang 1922/1923 waren geprägt von den damaligen Erziehungsmethoden, d.h. die Liebe gegenüber den Kindern war reduziert. Dennoch hatte ich unglaublich Heimweh. Das zweite Mal zur “Kur” bin ich nur, weil ich als 12-jährige dachte, das, was ich als Neunjährige erlebt hatte, sei einmalig gewesen, außerdem fuhr ich mit einer Schulfreundin zusammen nach Elmstein. Nach meiner Rückkehr von Marienfeld sprach ich nicht mehr (Mutismus). 

Ich fange dann auch mal bei diesem Ort an:

Mit einem Schild um den Hals setzte mich meine Mutter in den Zug. In mein Köfferchen hatte Mutter auch mein “gutes Kostüm” eingepackt und in das Kleidungsstück mehrere Geldscheine mit einer Sicherheitsnadel versteckt. “Wenn mal was ist” ??? Woran dachte sie wohl? Meine Steiff Tier hatte ich rechts und links unter die Arme geklemmt. Pause.

Großer Schlafsaal, jeden Tag Spaziergänge, großer Speisesaal, Kinder die weinten, Kinder, die sich übergaben, Kinder, die während des Gebetes vor dem Essen in die Hosen machten, Kinder, die dafür bestraft wurden.

Nicht ausgehalten. Nachts weinen, ich auch. Jeden Tag bekam ich Post, am Wochenende ohne Post fühlte ich mich noch verlassener. Ich plante meine Flucht – als Neunjährige: Ich prägte mir auf den Spaziergängen ein, wo im Ort was war, vor allem, Wo der Bahnhof war. Dann musste ich noch an das von Mutter versteckte Geld kommen. Das war auf der Galerie des Hauses, dort standen die großen Kleiderschränke mit der Kleidung der Kinder. Wäschewechsel gab es nur einmal wöchentlich. Ich musste also mein gutes Kostüm beim nächsten Mal anziehen und hoffen, dass es nicht auffällt. Ich hatte Glück, es fiel nicht auf. Meine Steiff Tiere wollte ich nicht zurücklassen, also habe ich sie beim Spaziergang mitgenommen. Fiel auch nicht auf. Als wir von einem Spaziergang am Vormittag zurück ins Heim kamen, bummelte ich in dem Raum, in dem die Schuhe gegen Pantoffel getauscht wurden, so lange, bis ich dort allein war. Ich schnappte mir meine Steiff Tiere und verließ das Haus. Draußen gab es – und das war mir sehr bewusst, keine Deckung. Aber dieses Risiko wollte ich eingehen. Ich rannte über den Vorplatz und dann zum Bahnhof. Am Schalter kaufte ich eine Fahrkarte nach Essen, wo wir damals wohnten. Aber leider fanden mich die Leute vom Heim eher, als der Zug kam. Ich hielt mich an der Wartebank fest. Sie zerrten an mir, bis ich losließ. 

Hier muss ich erstmal tief durchatmen, bevor ich weiterschreibe.

Wieder im Heim folgten Drohungen, dass, wenn ich nicht brav sei, meine Eltern den Aufenthalt bezahlen müssten. Ich durfte nirgends mehr alleine hin, nicht einmal zur Toilette – die Tür musste weit offenstehen. Welch eine Demütigung.

Schafhof – das hatte ich auch vergessen. Als ich vor Jahren einmal mit meinem Mann durch Neustadt a.d.W. also unmittelbar bei Elmstein fahren musste, sagte ich nur “hier setze ich keinen Fuß raus.” Aber ich wusste nicht weshalb. In Elmstein war ich mit einem Mädchen, dass ich kannte. Wir hatten im Schlafsaal Betten nebeneinander. Manchmal krochen wir nachts gemeinsam in ein Bett, um uns zu trösten. In Elmstein musste ich einmal nachts im Nachthemd, aber barfuß auf dem kalten Fußboden im Waschraum stehend verbringen. 

Briefe nach Hause schreiben: Wir saßen alle gemeinsam in einem Raum. Die Nachrichten an zuhause durften nicht zugeklebt werden, sie mussten der Aufsicht übergeben werden. Die las die Post und steckte sie dann in ein Körbchen. Später nahm sie die Briefe und Karten dann mit zum täglichen Spaziergang, um diese dann in einen Briefkasten zu werfen. Dieses Vorgehen hatte ich “studiert” und nutzte die kurze Abwesenheit der Aufsicht, meinen frankierten und zugeklebten Brief (mit meinen Erlebnissen) in das Körbchen zu legen. Das ging erstmal gut. Der Spaziergang folgte, aber am Briefkasten hielt die Aufsicht meinen Brief zurück. Ich weiß nicht, woran sie gemerkt hatte, dass ich ihn reingeschmuggelt hatte (Markierungen???). Den ganzen “Heimweg” drohte sie mir. Dort wurde ich zur Oberin geführt. Die hatte meinen Brief geöffnet und gelesen. Sie rief in meinem Beisein meine Mutter an. Ich wurde dann gezwungen, mit meiner Mutter zu sprechen und ihr sozusagen das Blaue vom Himmel zu erzählen. Danach habe ich für einige Tage jegliche Nahrungsaufnahme verweigert.

Nach der Fernsehsendung bin ich auf unseren Dachboden gestiegen. Dort habe ich einen großen Karton mit meiner privaten Korrespondenz (Liebesbriefe, Briefe von Freundinnen und Freunden usw). Aber, und daran erinnerte ich mich dann, waren auch sehr viele Postkarten, die ich von Eltern, meiner Schwester und Oma in die Kinderheime geschickt bekommen habe. Ich fand darunter auch Postkarten, die an ein drittes Heim geschickt wurden. Merkwürdigerweise habe ich weder an den Aufenthalt noch an das Heim irgendwelche Erinnerungen. Ich war daher sehr erstaunt, als ich diese Karten fand. Ob es sich dabei um einen Ausflug der Schule handelte (Schullandheim)? Ich weiß es nicht, nicht einmal, ob ich in der Schule sowas überhaupt mitgemacht habe.

Die gestrige Sendung bei Planet Wissen hat mich daran erinnert, dir zu schreiben und ich bin jetzt froh, dass ich es hinter mir habe. Jetzt brauche ich erstmal wieder Pause vom Thema. Ich bin eine mit beiden Beinen auf dem Boden stehende Frau (JG56), sehr aktiv in der Politik, möglichst pragmatisch, dennoch packt mich dieses Thema Verschickungskinder an den Hals. Ich sollte vergangenes Jahr eine Veranstaltung dazu machen, habe dann aber festgestellt, dass ich das nicht kann. Vielleicht jetzt, wo ich meine Erinnerungen (zu ersten Mal) niedergeschrieben habe.

Was will ich? Weshalb beteilige ich mich? Darauf habe ich keine Antwort. Ich würde allerdings gerne wissen, ob an mir auch Medikamente getestet wurden. Ich habe, seit ich neun Jahre alt bin Migräne.

Mehr kann ich momentan nicht schreiben, ich fühle mich ausgeleert. Ich lese die Mail auch nicht mehr durch. Ende für heute.

Wie geht es jetzt weiter?

Anonymisierungs-ID: aij

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