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40545 Oberkassel, 1972

Ich weiß, dass ich auch Spritzen bekommen habe

Von: R.J.

Heute bin ich 55 Jahre alt.

Ich war 4 Jahre alt und mein Bruder 6 Jahre, der Grund der Verschickung: Bettnässer oder, wie man es damals nannte: neurologische Fehlhaltung. Unser Hausarzt meinte zu meiner Mutter, es wäre gut, wenn mein Bruder mal in Kur (Kindersanatorium) geht, um das Bettnässen dort zu behandeln. Dann wäre es auch ratsam, dass ich direkt mit gehe. So wären wir auch zu zweit und meine Mutter wäre mal etwas entlastet.

Ich kann mich noch gut dran erinnern, ob wohl ich noch so klein war, wie wir dort am Bahnsteig gestanden haben. Ich sehe diese ältere Frau auf mich zukommen, die mir ab dem ersten Moment Angst eingejagt hat. Sie hat uns die Hand gereicht und ist mit uns in diesen Zug gestiegen. Ich weiß heute noch genau, welche Kleidung meine Mutter getragen hat. Das hat sich so tief in mir eingebrannt, wie sie dastand, der Zug losfuhr und sie nichts tat. An der Zugfahrt selbst kann ich mich nicht mehr erinnern.

Von dem Aufenthalt habe ich teilweise noch gute Erinnerung, und andere Teile sind ganz weg oder schlummern noch irgendwo.

Bis heute habe ich immer noch mit Ängsten und Panikzuständen zu tun, meine Mutter sagte immer nur: Du bist ein ängstliches Kind. Heute weiß ich, wieso ich so ängstlich bin: Man hat mich in dieser Kur (Kindersanatorium) gebrochen.

In meiner Kindheit hatte ich mit sehr vielen Angstträumen zu tun. Ich wusste nie, wo sie herkommen, auch die Bilder vor meinem inneren Auge waren mir immer unheimlich. Selbst habe ich mir immer eingeredet: Das kann nicht sein, so etwas hast du nicht erlebt, du spinnst dir etwas zusammen.

Richtig bewusst ist mir dies erst vor ein paar Jahren geworden, wo ich nach einem Autounfall eine EMDR-Behandlung bekommen habe. In der Behandlung sollte ich meinem Gehirn mal freien Lauf lassen, und dann kamen so viele Bilder und Erinnerungen aus der Kurzeit (Kindersanatorium) hoch, und so konnte ich meine Bilder im Kopf den Geschehnissen zuordnen.

Genauso die Berichte von anderen Betroffenen haben mir mehr Klarheit gegeben. Danke dafür!!!

 Diese Krankenschwester oder was auch immer sie war, hat so eine körperliche und psychische Gewalt auf mich ausgeübt. Diese Frau und ihr Gesicht werde ich nie vergessen.

In der ersten Nacht, wo man mir mein Bett zeigte, habe ich mich geweigert, in diesem Bett zu schlafen. Es war ein Babybett mit Gitter. Ich wollte nicht in einem Babybett schlafen, sondern dort schlafen, wo mein Bruder ist. Man hat mir dann erklärt, dass mein Bruder auf der anderen Seite der Wand schläft und ich in dem Kinderbett schlafen müsste. Dieser Satz klinkt heute noch, als ob man ihn gerade ausspricht. Damit ich nicht aus dem Bett steigen konnte, hat man mich dann festgebunden.

Man hat mir oft Angst gemacht, damit ich aufhörte zu weinen. Teilweise hat man mich auch geschlagen, damit ich aufhöre. Ich weiß, dass ich auch Spritzen bekommen habe. Ob sie dazu gedient haben, mich ruhigzustellen, weiß ich nicht.

Wo ich mich wohl noch gut dran erinnern kann, dass man mich in einen dunkeln Raum gebracht hat: Ich sehe mich heute noch oft in diesem Raum vor mir und wie ich in dieser Ecke an der Türe sitzen, zusammengerollt und weinend.

Warte eigentlich immer noch darauf, dass endlich mich jemand abholt! Daran arbeite ich zurzeit!

Beim Essen durfte ich (wir) erst den Tisch verlassen, bis der Teller leer war. Ich weiß: Man hat uns an den Ohren gerissen, angeschrien, auf den Tisch geschlagen und uns auch geschlagen, wenn wir nicht gegessen haben.

So ähnlich war es auch auf der Toilette, die durfte man erst verlassen, wenn man gemacht hat. Die Schwester blieb vor der Tür stehen, bis man fertig war. Auch da hat man Gewalt ausgeübt.

Dann gab es noch den Arztbesuch. Sobald man die Tür reinkam, saß dieser Arzt an seinem Tisch, vor diesem Arzt hatte ich höllische Angst. Sobald man in dem Raum war, musste man immer die Hose runterlassen, dann wurde man untersucht und dort bekam man dann auch die Spritze. Weinen war nicht erlaubt!!! Man hat nicht gewagt, nur eine Träne fallen zu lassen.

 Nach dem Kur- (Kindersanatorium) Aufenthalt war ein Arztbesuch für mich das Schlimmste, was es gab. Ich hatte panische Angst vor Spritzen. Jemanden im Krankenhaus besuchen war für mich bis ins Erwachsenenalter nicht möglich.

 Meinen Bruder habe ich in der ganzen Zeit während des Aufenthaltes nicht gesehen. An ein einziges Mal kann ich mich erinnern: beim Essen, dann hat er aber weit von mir weg an einem anderen Tisch gesessen. Reden war nicht erlaubt am Tisch.

Ich habe lange drüber nachgedacht, ich habe keinen Moment gefunden, wo ich sagen kann, das war schön.

Wenn ich daran denke, kommt nur eine große Traurigkeit und Schmerz hoch, und ich glaube, ich bin froh, dass ich nicht mehr alles weiß, was dort geschehen ist.

Ich habe noch mehrmals probiert mit meiner Mutter darüber zu sprechen, nur ein Gespräch mit ihr darüber zu führen war nicht möglich. Die einzige Aussage: Ich würde euch heute nicht mehr dahin schicken, aber der Arzt hat uns dazu geraten und deswegen haben wir es gemacht.

Bettnässer war ich nach der Kur (Kindersanatorium) immer noch ein Thema (kein Wunder), und es kommt noch viel schlimmer. Es hat bis zu meinem 19. Lebensjahr an Gehalt. Es hat ein Großteil meines Lebens bestimmt!

Seit ungefähr 20 Jahren gehe ich immer wieder in Therapie, wohl mit Unterbrechungen, immer wieder mit denselben Themen (Ängste/Panik u. Probleme mit zwischenmenschlichen Beziehungen).

Jahre lang durfte mich niemand Fremdes anfassen. Das ist mit zunehmendem Alter besser geworden, heute auch kein Problem mehr.

Dunkelheit, sicher wenn ich in fremden Räumen bin, ist für mich ein sehr großes Problem: Schlafen tue ich erst dann, wenn es hell wird.

Seit gut einem Jahr weiß ich, woher mein Kernproblem kommt. Hätte mal jemand mir richtig zu gehört und mit mir gesprochen, wäre ich mit der Aufarbeitung heute schon viel weiter. Statt es immer nur zu verschweigen und einfach mal Verantwortung für das zu übernehmen, was man uns angetan hat!

Ich bin froh, dass ich heute drüber sprechen kann und ich weiß, ich bin nicht allein (auch wenn das furchtbar ist).

Anonymisierungs-ID: aiw

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