Von: B.G.E.
Auch ich wurde 1964 mit gerade sieben Jahren nach Bad Rothenfelde ins dortige Oldenburger Kinderheim “verschickt”. Der Grund war sicher die TBC-Erkrankung meiner Eltern und ich sollte eine Luftveränderung bekommen.
Oh ja, es war eine deutliche Luftveränderung! Vom Regen in die Traufe sozusagen.
Als ohnehin schon nervöses und ängstliches Kind erwies man mir mit dieser Kur einen Bärendienst. Da ich nicht so pflegeleicht war und recht verstört, war es sicher ein Leichtes für die damaligen Erzieherinnen, die von uns ‘Tanten” genannt werden mussten, mich mit ihren Nazi-Methoden zu traktieren. Auch ich musste meine in den Teller erbrochene Haferschleimsuppe wieder aufessen. Wer in der Mittagsruhe nicht absolut still war, bekam am Nachmittag beim sogenannten Schweigemarsch ein Pflaster über den Mund geklebt. Unter anderem wurde ich damit erpresst, dass ich nicht wieder nach Hause fahren dürfe, wenn ich nicht endlich an Gewicht zunehme.
Nach einigen Tagen wurde ich während der Mahlzeiten an einem anderen Tisch, weit weg von den übrigen Kindern, platziert, da man es den anderen nicht länger zumuten könne, mich am Tisch sitzen zu haben und mir beim Essen (oder nicht- essen-Können) zusehen zu müssen. Ich nutzte das dazu, mein Essen in unbeobachteten Augenblicken aus dem offenen Fenster ins Beet darunter fallen zu lassen, wenn ich es gar nicht runter bekam.
Es war teilweise wie militärischer Drill, bei dem wir uns z.B. unter einem Klettergerüsts entlanghangeln sollten, was mir nicht gelang. Ewig lange “Spaziergänge” durch den Teutoburger Wald waren üblich, manchmal durften wir dabei einen Aussichtsturm erklettern, um über die Baumwipfel hinaussehen zu können.
Auch Demütigungen durch die gesamte Kinderschar waren an der Tagesordnung, wenn man nicht richtig “spurte”: So wurde ich auf einen Tisch gestellt, mir wurde der Kopf eines Bärenkostüms aufgesetzt und alle “durften” mich auslachen und mit dem Finger auf mich zeigen. An den Auslöser dafür erinnere ich mich nicht mehr.
Gerade eingeschult, konnte ich noch nicht schreiben. So wurde von den “Tanten” eine Ansichtskarte geschrieben und nach Hause an meine Eltern geschickt. Darin standen nur Lügen. Es ginge mir so gut und ich hätte mich gut eingelebt usw.
Ich wollte nur weg dort, zurück nach Hause, wo ich wenigstens das Prozedere kannte. Ich wurde krank vor Heimweh und wohl auch aus dem Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein.
Als ich nach vier Wochen “Erholung” wieder nach Hause kam, sah ich nach der Aussage meiner Mutter aus “wie Braunbier mit Spucke” und hatte permanent Magenschmerzen. Es war eine heftige Magenschleimhautentzündung, mit der ich jahrelang und auch später immer wieder zu tun hatte.
Ich berichtete meinen Eltern von den Zuständen in dem Kinderheim und sie waren entsetzt. Soweit ich mich erinnere, ist diese Geschichte wohl damals schon in die Zeitung gekommen und das Personal soll ausgetauscht worden sein. Aber das weiß ich nicht mit Gewissheit.
Ohne spätere intensive therapeutische Begleitung hätte ich all das nicht hinter mir lassen können.
Anonymisierungs-ID: ajm