53227 Bonn-Oberkassel,1973

M. gab die Spritze nicht, er rammte sie jedem Kind mit Wucht in´s Hinterteil,…


Von: D.L.
Unmittelbar nach der Ankunft wurden wir sehr unwirsch in den Keller geführt. Schon
nach den ersten Minuten mussten wir erfahren, dass es für keinen von uns eine
Form der freundlichen Ansprache gab. Es herrschte von der ersten Minute an ein
„Kasernenhofton“. Die Kommandos, die man uns gab, bestanden ausschließlich aus
Zwei- und Dreiwortsätzen:“Hinsetzen! Mund halten! Vortreten! Kopf runter!…“ Wir
nahmen auf einer Bank Platz und wurden danach namentlich einzeln in einen
Untersuchungsraum kommandiert. Dort wurden die Personalien aufgenommen, man
musste seinen Koffer abgeben, wurde auf Läusebefall hin kontrolliert und die
obligatorische Ankunftspostkarte wurde unter Aufsicht geschrieben. Der Text wurde
sicherheitshalber um Zeit zu sparen diktiert. Er lautete in etwa:“Liebe Mutti, lieber
Papa, ich bin gut in Oberkassel angekommen. Das Wetter ist schön und mir gefällt
es hier sehr gut. Liebe Grüße, euer….“
Es gab zwei 2 Gruppen von „Patienten“, die Bettnässer und die Kinder, die an
Gewicht zulegen sollten (zur letzten Gruppe gehörte ich). Die Ernährung, die
„Behandlungen“, ja sogar die Medikation war für alle gleich.
Die Mahlzeiten:
Das Frühstück bestand aus Graubrot mit Marmelade, dazu gab es ein Getränk,
welches man sich gut einteilen musste, es wurde nicht nachgeschenkt. In der ersten
Woche gab es 2 Brote, in der zweiten 3 und ab der dritten Woche musste man 4
Brote vertilgen, ob man mochte oder nicht, auch wenn man nach der Hälfte schon
satt war. Man blieb so lange sitzen, bis alles aufgegessen war. Um den Druck auf die
Langsamsten zu erhöhen, setzten sich Betreuer neben diese, um verbal zusätzlich
Druck auszuüben. Es durfte nicht gesprochen werden, sehr leises Flüstern wurde mit
Glück von einigen Betreuerinnen geduldet.
Das Mittagessen wurde ebenfalls bei nahezu absoluter Stille eingenommen, die
Portionen wurden von den Betreuern am Tisch verteilt, auf Umfang der Mahlzeit
hatte man keinen Einfluss. Kommentare wie: “So viel, das schaff ich nie“ wurden mit
einem extra Nachschlag quittiert. Auch hier galt: Sitzenbleiben bis zum bitteren Ende.
In den Teller Erbrochenes musste ebenfalls wieder gegessen werden. Der
bedauernswerte Junge mir gegenüber erlitt dieses Schicksal bei einer Linsensuppe.
Wie beim Frühstück, wurde auch hier nur ein Getränk gereicht, unabhängig von der
Witterung, es war Hochsommer mit entsprechenden Temperaturen.
Das Abendessen bestand wieder aus Graubrotscheiben mit Marmelade und/oder
Wurst, die Portionierung entsprach der des Frühstücks, mit dem Unterschied, dass
es nichts zu trinken gab um die Blasen der Bettnässer nicht über Gebühr zu füllen.
Besondere Rituale:
Nach dem Frühstück wurde gefragt, wer in der letzten Nacht eingenässt hatte,
diejenigen mussten vor allen Anderen nach vorne kommen, sich teilweise entblößen
um dann eine Spritze in den Po zu bekommen. Dieses Ritual wurde nach einiger Zeit
vom Speiseraum in den Keller verlegt. Aus glaubhaften Erzählungen meiner
Zimmernachbarn spielte sich die Prozedur folgendermaßen ab: Die Delinquenten
saßen nebeneinander auf einer Bank und wurden einzeln in den Untersuchungsraum
geführt. Dort mussten sie sich bäuchlings auf eine Pritsche legen und bekamen eine
Spritze in den Po. Dies geschah bei halbgeöffneter Tür, sodass die Intimsphäre nicht
gewahrt wurde. Zuckte ein Kind beim Einstich der Spritze oder gab einen Laut von
sich, bekam man sofort einen Rüffel und die süffisant vorgetragene Botschaft, dass
die allmorgendliche Bettnässer-Spritze in den letzten beiden Wochen der Kur vom
Leiter der Klinik, Dr. Otto Müller, persönlich verabreicht würde. Da wir diesen Mann
im Laufe der ersten Wochen bei verschiedenen Gelegenheiten kennen- und fürchten
lernen durften, baute sich zum Ende der Kur ein besonders großer Druck auf. Einige
der Bettnässer versuchten, das Einnässen zu verschweigen, zu vertuschen, indem
sie die Bettlaken solange schüttelten, bis sie getrocknet waren, um danach schnell
das Bett zu machen, um so die verräterischen Spuren der Nacht zu beseitigen. Den
geschulten Augen der Betreuer entgingen natürlich die gelben Flecken nicht und so
bekamen diese Kinder eine Extra Strafe aufgebrummt. Die bereits vollmundig
angekündigte Gabe der Spritze von Dr. M. in den letzten zwei Wochen widersprach
allerdings jeglichen medizinisch-ethischen Gepflogenheiten. M. „gab“ die Spritze
nicht, er rammte sie jedem Kind mit Wucht in’s Hinterteil, der zwangsläufig folgende
Schmerzensschrei wurde mit einem brutalen Schlag auf den nackten Hintern quittiert.
Außer dem ständigen „Ruhe“ Gebrüll des Arztes gab es keine persönliche
Ansprache.
Nach dem Mittagessen mussten wir uns in die Schlafräume zum zweistündigen
Mittagsschlaf begeben. Die Augen mussten dabei permanent verschlossen sein, was
von einer Aufseherin strikt kontrolliert wurde. Wer mit offenen Augen im Bett lag,
wurde angeschrien und meist mit einer zusätzlichen Strafe, gerne in Form von
körperlicher Züchtigung gezüchtigt. Besonders lebhafte Kinder wurden auf
Anordnung von Müller über Mittag sediert. Von ihm ist der Ausspruch: “Sedieren,
sedieren, bis er im Stehen einschläft!“ überliefert.
Im Anschluss an das Abendbrot mussten wir sitzen bleiben, den Kopf in den Nacken
legen und den Mund weit aufmachen. Eine Angestellte ging dann mit einer
Plastikbox, aus der sie Tabletten entnahm von Tisch zu Tisch und warf jedem Kind
eine Tablette in den Rachen. Sie blieb bei jedem Insassen so lange stehen, bis die
Tablette nachweislich verschluckt war, ohne Wasser versteht sich. Uns, oder später
unseren Eltern wurde nie gesagt, welche Medikamente verabreicht wurden und zu
welchem Therapiezweck. Die letzten Getränke eines Tages gab es um ca. 17.00 aus
oben genannten Gründen.
Nachts wurden wir von einer älteren Nachtschwester bewacht. Sie allein war dafür
zuständig, die Einhaltung der Nachtruhe zu überwachen und zwar sowohl bei den
Mädchen im ersten Obergeschoß, als auch bei den Jungen im zweiten. Sie
patrouillierte mit Taschenlampe, reglementierte Störenfriede und erst wenn sie sicher
schien, dass alle schliefen, setzte sie sich auf ihren Stuhl, den sie auf der Treppe
zwischen erstem und zweitem Stock platziert hatte. Wir Jungen warteten diesen
Moment ab, um auf leisen Sohlen aus dem Schlafraum in den angrenzenden
Waschraum zu schleichen. Dort gab es mehrere Waschbecken, die Leitungen lagen
über dem Putz. Obwohl die Hauptwasserleitung abgestellt war, befand sich immer
noch ein kleiner Rest des kühlen Nass‘ in den Leitungen. Wir verteilten uns also an
den Waschbecken, drehten die Hähne auf und jeden Abend musste ein anderer
Junge mit der ganzen Kraft seiner Lungen in das vordere Rohr hineinpusten, um so
dafür zu sorgen, dass alle anderen zumindest ihre Lippen benetzen konnten. Im
Taumel dieses Hochgefühls waren wir jedoch nicht immer leise und ein um’s andere
Mal hat uns die Nachtschwester erwischt und es gab ein Donnerwetter. Zudem war
es ihre Aufgabe, sämtliche Patienten nachts aus dem Tiefschlaf zu wecken und zum
Toilettengang zu bewegen. Dies geschah in der ersten Woche um 24 Uhr, in der
zweiten um 1.00 Uhr, in der dritten um 2.00 Uhr usw. Die Idee war, mit dieser
Methodik die Blasen der Kinder zu längerem Aushalten zu trainieren.
Wenn es der Nachtschwester nicht gelang, uns zur Ruhe zu bringen, drohte sie
damit, Dr. Müller zu wecken. An den meisten Tagen reichte allein diese Drohung, um
absolute Ruhe herzustellen. Ich erinnere mich an eine Nacht, in der dies hingegen
nicht gelang. Sie machte ihre Androhung wahr, und Minuten später stürmte Müller,
die Schwester im Schlepptau in den Schlafraum. Er betätigte den Lichtschalter und
obwohl wir alle in der sicheren Erwartung des nun drohenden Unheils uns schlafend
stellten, nahm die Gewaltorgie seinen Lauf. Auf seine einsilbige Frage „Wer?“, zeigte
die Schwester auf die ihr bekannten Störenfriede, die nacheinander vom Leiter der
Klinik händisch verprügelt wurden. Dazu riss er die Bettdecke weg, die
Schlafanzughosen runter und drosch mit all seiner Kraft auf die schreienden Jungen
ein. An diesem Abend hatte ich Glück, die alte Dame hatte nicht auf mich gezeigt und
so blieb mir diese körperliche Züchtigung erspart. Nachdem ich die Geschehnisse
der ersten Minuten mit einem verstohlenen Blick über meine Schulter beobachtet
hatte, stellte auch ich mich schlafend. Unbeschreiblich und extrem präsent ist dessen
ungeachtet der Moment, in dem Müller, vor Wut und körperlicher Anstrengung
schnaufend, an mein Bett tritt, sich über mich beugt, keucht und zischt: “Na, wird hier
geschlafen?“ Dieser Moment ist die nach wie vor am stärksten angstbesetzte
Situation meines Lebens.
Ähnliche Situationen gab es während der Mahlzeiten. Wurde doch einmal entgegen
den Anweisungen gesprochen, öffnete Müller die Tür zu seinem Arbeitszimmer,
welches unmittelbar an den Speiseraum grenzte, setzte sich wieder an seinen
Schreibtisch, jederzeit bereit, bei Disziplinmangel den Übeltäter zu züchtigen. Ab
diesem Moment herrschte Grabesruhe.
Visite:
Einmal pro Woche fand die Visite für alle Patienten statt. Dieses Szenario spielte sich
über drei Räume hinweg ab. Im ersten mussten wir uns bis auf die Unterwäsche
ausziehen, es durfte höchstens geflüstert werden, auch die Angestellten sprachen
mit gedämpfter Stimme. Danach ging es für ca. 5-7 Kinder in den zweiten Raum, in
dem man uns den Ablauf der Untersuchung erklärte und die Aufstellung in Reih‘ und
Glied vornahm. Wir übten mehrmals das Vortreten, Drehen, Abtreten und hinten
anstellen. Absolutes Sprechverbot, selbst das Personal hat nur noch geflüstert. Dann
ging es im Gänsemarsch in’s Allerheiligste, den eigentlichen Untersuchungsraum von
Dr. Müller. Sein Assistent rief einen Namen auf, das Kind musste vortreten und den
mürrisch und herrisch vorgetragenen Befehlen des Arztes folgen. Auch hier: keine
persönliche Ansprache, keine Empathie. Läppische Schnelluntersuchung, Abhören,
Reflextest, Blick in die Unterhose, am Ende das obligatorische Wiegen, denn
schließlich war der Erfolg der Kur einzig in Kilogramm zu bewerten. Uns schlotterten
vor Angst die Knie, wir durften keinen Mucks machen und uns keinen Fehler
erlauben. Schon ein falscher Schritt konnte dem alten knarzenden Parkettboden ein
Geräusch entlocken, das jenseits der Schalltoleranz von Müller lag und jederzeit
ohne Vorwarnung einen cholerisch eruptiven Gewaltausbruch provozieren. Die
Führung der Patientenakten werden von einer späteren Kontrollkommission als
unvollständig und liederlich kritisiert.
Medikation:
Mittlerweile ist, nicht zuletzt durch ehemalige Mitarbeiter, bekannt geworden, was uns
damals in Tabletten- und Spritzenform verabreicht wurde. Schmerzmittel,
Psychopharmaka und Sedativa. Hier: Aqua dest., Impletol, Protactyl. Führende
Pharmakologen bestätigen heute, dass es sich hier weder um eine Therapie noch
um eine Methodik handelt, die der neurologischen Defekte der Patienten gerecht
wurde. Langzeit- und Spätfolgen wahrscheinlich – ein Skandal.
Freizeitgestaltung:
Daran habe ich kaum Erinnerungen. Auf dem parkähnlichen Gelände des
Sanatoriums durften wir nie spielen, zu laut. Es gab einen Raum mit Malutensilien
und Gesellschaftsspielen. Viele Spaziergänge in Oberkassel, immer von zwei
Mitarbeitern begleitet, die penibel darauf geachtet haben, dass niemand heimlich
eine Nachricht an das Elternhaus in einen Briefkasten gesteckt hat. Das Schreiben
der wöchentlichen Postkarte für die Eltern wurde strengstens kontrolliert, Briefe
durften nicht verschlossen werden, bevor sie von Angestellten gelesen wurden.
Wurde Kritik an der Kur geäußert, wurde der Brief zerrissen und man musste ihn neu
schreiben. Ein Ausflug zum Drachenfels, die Aufseher immer dabei, Taschengeld
nicht zur freien Verfügung, sondern streng in kleinen Beträgen vom Personal
abgezählt und ausgehändigt.
Sexueller Missbrauch:
Unmittelbar nach der Schließung des Hauses im Jahr 1976 fand ein Verwandter der
Besitzerin der Villa in den Privaträumen von M. 60-70 ungerahmte Dias, private
Aufnahmen mit eindeutig pädophilem Inhalt. Auf einigen der Bilder ist ein Mann,
dessen Kopf nicht mit fotografiert wurde, zu sehen, der nackt auf einem Stuhl sitzt.
An seinem erigierten Glied lecken 1-2 Jungen im Alter von 8 und 10 Jahren.
Todesfall:
Nach einem Artikel im Bonner Generalanzeiger meldete sich eine Dame bei mir und
berichtete von ihrer damals besten Freundin, einem 5 jährigen gesunden und
fröhlichen Mädchen, das Mitte der 60er Jahre in das Haus Bernward verschickt
wurde. Nach ca. der Hälfte des Kuraufenthalts verstarb das Mädchen im Sanatorium,
den Eltern wurde lapidar mitgeteilt, es sei „an Angina“ verstorben. Sie erinnere noch
gut, dass sie von den Eltern gebeten wurde, als weißer Engel verkleidet vor dem
ebenfalls weißen Sarg herzugehen. Der Fall wurde nie publik.
Anonymisierungs-ID: acd

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