55543 Bad Kreuznach, 1965

„… und mir grinsend befahlen, alles Erbrochene wieder und immer wieder aufzuessen …“

Von: A.M.

Mit großem Interesse verfolge ich die wichtige Arbeit zum Thema Kinderverschickung, die ich vor vielleicht 2 Jahren zufällig entdeckt habe.

Ich war mehr als überrascht und erstaunt, zu lesen, dass es so viele Menschen gab und gibt, die durch diese Verschickungen heute, als Erwachsene, immer noch die Folgen tragen.

Leider gehöre ich auch dazu.

Meine eigene Verschickung hat im Jahr 1965 in Bad Kreuznach stattgefunden. Ich hatte gerade meinen 6ten Geburtstag hinter mir.

Meine erste Erinnerung gilt dem Moment, in dem unser Hausarzt meiner Mutter geraten hatte, mich doch endlich in eine Kur zu schicken, damit ich Gewicht bekäme.

Ich hatte damals schon viele verschiedene Krankenhausaufenthalte hinter mir, war auch in Bad Godesberg im Kinderkrankenhaus, um endlich den Grund meines Problems mit der Nahrung und diversen körperlichen Symptomen herauszufinden, und letztendlich zu „heilen“.

So kam es, dass ich mich eines Tages ganz alleine in einem Raum befand, der, gefüllt mit anderen Kindern, mit viel Lärm, Tränen und Verzweiflung, um der Dinge zu harren, die auf mich zukommen würden. Danach saß ich dann in einem Zug, ohne zu wissen wohin die Reise ging, erstaunt mich dort zu finden, in Begleitung anderer Kinder und Erwachsenen.

Und dann die Ankunft im Heim!

Es war kalt, wir waren mitten im Winter. Die „Tanten“, erwarteten uns ohne Lächeln, mit strengen Gesichtszügen, militärisch aufgereiht um uns die Schlafräume zu zeigen, den Essraum und unsere Koffer. 

Mein erster großer Schreck, mein Koffer fehlte. Es fand sich heraus, dass er wohl einfach eine falsche Richtung eingeschlagen hatte. Für mich bedeutete das, meine Reisegarderobe ablegen, die mir dann weggenommen wurde, und nur in Unterhose und Unterhemd im Heim zu laufen. Meine Panik und Scham konnte ich gar nicht richtig einschätzen. Die Pflegerinnen meinten, dass meine Eltern nicht aufgepasst hätten und sich gar nicht daran stören würden, dass es mehr Arbeit für die Pflegerinnen heißen würde. Ich schämte mich, und mein Teddy, der im Koffer war, fehlte mir sehr. 

Es gab dann viele Spaziergänge im Schnee, aber nur dann durfte ich meine Reisekleidung anziehen. Ich erinnere mich an die Rückkehr ins Heim, wo man mir direkt wieder meine Kleidung abnahm, und ich mich alleine unter anderen Kindern wieder in Unterwäsche befand. Es war kalt, und ich hörte viel Kritik über meine Eltern.

Dann gab es den verhassten Schlafsaal.

Mein Bett befand sich direkt an der Wand, und meine Bettnachbarin war genau so verzweifelt wie ich.

Die Essenzeiten waren strikt. Das Essen war furchtbar, und ich musste mich oft übergeben. Dann kam der Moment, an dem ein Arzt, und eine Schwester unter Aufsicht einen Tisch zeigten, mich dort hinsetzten, einen Teller vor mir, und mir grinsend befahlen, alles Erbrochene wieder und immer wieder aufzuessen. Natürlich schaffte ich es nie, die „Nahrung“ zu schlucken, und es dauerte sehr sehr lange, bis man mich endlich befreite. 

Die Tortur ging dann im Schlafraum weiter. Wir Kinder hörten das Weinen der anderen, und es gab ein Mädchen, geistig ein wenig unterentwickelt, die sich jede Nacht einnässte. Die Nacht war furchtbar, denn die Pflegerinnen stießen dieses Kind jede Nacht aus dem Bett, lautes Schimpfen, die Laken wurden ihr ins Gesicht geschlagen, sie weinte, und sie stand oft lange vor ihrem Bett bevor sie sich wieder hinlegen durfte.

Die Solebäder in dem schrecklich dunklen Untergeschoss gehörten ebenfalls zu den schlimmen Dingen, die dort passierten. Keine Bewegung, oder es wurde geschlagen. Kamen wir endlich heraus, mussten wir uns alle nackt in eine Reihe stellen, und dem Nachbarn den Rücken einseifen. Es wurde dann ein Schlauch mit kaltem Wasser auf uns gerichtet, und wir mussten das kalte Wasser und Abspritzen über uns ergehen lassen.

Es gab unter dem Personal eine Schwester, die uns besondere Angst machte. Beim gemeinsamen Toilettengang kam sie auf uns zu, und sie verteilte Ohrfeigen, da wir zu viel Lärm machen würden. Die Toilettentüren waren immer offen, und ich fand es besonders peinlich.

Ich hatte großes Heimweh und das Gefühl, meine Eltern nie wiederzusehen. Am Tag, als dann mein Koffer endlich kam, wurde mir mein Teddy sofort abgenommen. Ich musste ihn mit Kindern teilen, und nur ein einziges Mal die Woche damit spielen.

Die Heimkehr war schwierig. Meine Eltern glaubten mir nicht, und meine Geschichten über die traumatischen Erlebnisse wurden nie wahrgenommen, oder man glaubte mir kein Wort.

Dann musste ich wieder zurück ins Krankenhaus, denn natürlich war ich noch dünner als bei meiner Hinreise.

Jahre später versuchte ich mit meiner Mutter dieses Thema anzuschneiden, aber sie wollte nie darüber sprechen. Sie wollte es nicht. Sie glaubte, dass ich ein zu sensibles Wesen sei.

Heute bin ich 65 Jahre alt, und ich leide seit fast 30 Jahren an Angstattacken, Depressionen und Verlustangst. Ich kann keine Pläne für die Zukunft machen, es ist mir unmöglich alleine zu reisen, und ich habe alle Therapien versucht, die es gibt. Bei mir kam ein Trauma nach dem anderen, denn als ich 14 Jahre alt war, starb mein Vater vor meinen Augen.

Es ist gut, dass es heute endlich zur Aufarbeitung kommt. Zu wissen, dass man das alles nicht geträumt, oder erfunden hat, zu lesen, dass viele unter uns heute noch an den Folgen leiden. Daher wollte ich heute Zeugnis ablegen. Ich hoffe, dass Sie mich verstehen. Danke fürs Lesen, für Ihre Arbeit. 

Leider kann ich keine Hilfe in Deutschland erwarten, da ich seit 1980 in Frankreich lebe. Ich kämpfe weiter …

Anonymisierungs-ID: amp

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