Von: G.H.
Guten Tag,
auch ich war im Frühling/Sommer 1954 (damals 9 Jahre alt) ein Verschickungskind.
Ich war schmächtig und hatte eine sogenannte “Hiluslymphdrüsen- TBC” (geschlossene TBC).
Hierzu sollte man Folgendes wissen:
1. Diagnostik:
– Es gab damals schon den “Moro” Test (epikutaner Einreibetest) auf TBC
– Röntgenaufnahmen des Thorax gab es auch schon (man ist damals eher unvorsichtig mit Röntgenstrahlen bei Kindern umgegangen-
(siehe z.B. die damals in jedem Schuhgeschäft vorhandenen Durchleuchtungsgeräte, ob die Schuhe passten).
– Ein Tuberkelnachweis im Sputum gab es auch schon
Die Menschen damals hatten gerade wieder die Möglichkeit, sich kalorienreich zu ernähren. Man erinnere sich nur daran, wie zu jemandem, der verreist war und zugenommen hatte, gesagt wurde: Da hast Du jetzt ja was “zuzusetzen”. Buttercremetorte blühte.
2. Therapie
-Tuberkulostatika existierten nicht oder wurden gerade erfunden.
– Also gab es nur die Therapie des “Zauberberges”: Gutes Essen, Gewichtszunahme, Ruhe.
Ich kam in das evangelische Kinderheim (Diakonissen) in Bad Sassendorf, wo diese Therapie noch durch Solebäder in der Holzwanne unterstützt wurde.
Mittags gab es eine lange Ruhezeit draußen auf Pritschen.
Natürlich wurde auf das Essen geachtet- wir aßen von Blechtellern, bekamen Lebertran und wurden ständig zum Essen verführt und ermuntert, wöchentlich gewogen und bei Gewichtszunahme mit Leckereien belohnt.
Wie aus den beigefügten Fotos unserer Diakonisse Schwester H. (ich weiß den Namen dieses liebenswürdigen Menschen noch!)
waren wir eine fröhliche Gruppe sowohl beim alltäglichen als auch beim Osterspaziergang.
Die kleine Lola – auch deren Namen weiß ich noch-
hat oft geweint, weil sie doch Heimweh hatte.
Wir haben dann gesungen:
Liebe Lola, lass das Weinen, Lola lass das weinen sein….
Am Ostermorgen haben die Schwestern für uns gesungen.
Und wir: Kinder, wer will Sassendorf sehen, faria faria hoh,
der muss erst zum Kreisarzt gehen faria……..
Unsere Eltern durften zu festgesetzten Besuchszeiten kommen und alleine mit uns spazierengehen.
Nach 12 Wochen hatte ich zwölf Pfund zugenommen und die Veränderungen im Röntgenbild waren verschwunden.
Für das Versäumte in der Schule musste ich mich “auf den Hosenboden” setzen.
Ich bin danach nie “dick” gewesen.
Die Kur hatte also ihre volle Erfolgsberechtigung und entsprach auch der Therapie der damaligen Zeit, um Schlimmeres zu verhindern.
Als Einzelkind hat sie mir geholfen, mich sozial zu integrieren.
Ich möchte diese Zeilen schreiben, um zu zeigen, dass es nicht nur Missstände gab- im Gegenteil! -und bestimmt viele Verschickungen auch Ihre- nach dem damaligen Wissen-medizinische- Berechtigung hatten.
Es ist so schwierig, wenn grauenhafte Missstände exponiert in den Vordergrund rücken, eine in seiner Zeit zu sehende Epoche objektiv zu betrachten und die schwarzen, grauen und weißen Verläufe in ihrer Gewichtung objektiv zu beurteilen, da uns Menschen immer die schrecklichsten Dinge am längsten und am eindrucksvollsten im Gedächtnis bleiben.
Mit feundl. Grüßen
Anonymisierungs-ID: abj