59505 Bad Sassendorf, 1967

Vielleicht rührt heute mein ständiges Schauen nach einer Toilette daher

Von: R.St.

Ich war im Sommer 1967 zur Kinderkur in Bad Sassendorf (6 Wochen). Ich sollte vor dem Wechsel zur Realschule „Kraft tanken“, da ich sehr klein und vor allem sehr dünn war. Außerdem litt ich immer wieder unter allergischen Reaktionen und Neurodermitis.

Ich weiß noch, dass wir zu ca. 20 Kindern in einem Saal schlafen mussten, Bett an Bett. Gegessen wurde, was auf den Tisch kam, für mich manches davon ungewohnt (viel Blutbildendes, meiner Erinnerung nach jeden Tag Rote Bete), aber vor allem ekelig, wenn man essen musste, was da war, egal ob das einem schmeckte. So einen Zwang war ich (und sicher alle anderen auch) nicht gewohnt. Schlimm fand ich die Moorbäder (auch das ekelte mich, man bekam ja nicht erklärt, warum man in diese Brühe musste), aber das eiskalte Abduschen und vor allem die Wucht des Wassers (auf den schmächtigen Körper) hinterher war schon im Voraus Qual, man wusste ja, was gleich nach dem Bad kommt. Einmal musste ich nötig zur Toilette. Wir waren draußen spielen und ich wollte schnell ins Haus, aber das durfte ich erst, nachdem ich die Aufsicht informiert und diese erst drinnen auch um Erlaubnis gefragt hatte. Das dauerte alles, dann stand ich irgendwann im Haus in der Eingangshalle und musste noch warten, bis eine Schwester (ich erinnere mich an eine Tracht, ob aber Nonne oder Ordensschwester weiß ich nicht mehr) kam und mich zur Toilette begleitete (allein im Haus rumlaufen durfte man nicht). Das ging natürlich schief und ich musste eine nasse Unterhose vermelden. Ich erinnere mich an ein Donnerwetter, das empfand ich als besonders ungerecht, denn ich hatte doch rechtzeitig gesagt, dass es dringend ist (neben der Scham über das Unglück).  Vielleicht rührt heute mein ständiges Schauen nach einer Toilette daher. Ich sehe immer erst überall nach, ob auch eine Toilette in der Nähe ist. Sonst werde ich nervös und mache mir alle möglichen Gedanken, was passiert, wenn ich nicht rechtzeitig eine Toilette erreiche. Selbst wenn ich 5 Minuten vorher noch auf Toilette war, gehe ich nochmal, bevor ich das Haus verlasse, zwanghaft.

Ein anderes Mal kam an unserem Schlafsaalfenster ein Schützenumzug vorbei. Wir musste ja mittags ruhen (alle Kinder von ca. 5-12 Jahren in unserem Saal,  ohne Ausnahme). Ein Schützenumzug ist natürlich für Kinder ein Highlight, also standen wir alle vor den Fenstern. Da kam die Aufsicht (eine junge Frau) und verteilte an alle, die nicht schnell genug in ihre Betten kamen, schmerzhafte Ohrfeigen (richtig mit Schmackes, das Klatschen höre ich heute noch). Ich war eine davon, denn ich war zwar schnell im Bett (das zweite vom Fenster aus), aber dazu habe ich mich auf das erste Bett gesetzt und die Beine drüber geschwungen und auch das war verboten. Wie auch das Aufstehen an sich, bevor die Aufsicht die Erlaubnis dazu gab. Aber wir waren Kinder, da ist eine gewisse Neugier auf das Geschehen draußen sicher normal. Und als 10jährige vor aller Augen eine deftige Ohrfeige zu kassieren ist Demütigung pur.

Alles in allem war die Kur keine gute Erfahrung, sie hat auch nachhaltig meine Gesundheit nicht verbessert. Meine Kinder habe ich nie zur Kinderkur geschickt, wir haben 10 Jahre lang immer nur gemeinsam Badekur gemacht, meine Erfahrungen sollten sie nie erleben.

Anonymisierungs-ID: abp

Newsletter-Anmeldung

SPENDEN

Vielen Dank, dass Sie sich für eine Spende interessieren:

AKV NRW e.V.

IBAN DE98 3206 1384 1513 1600 00

Für eine Spendenquittung bitte eine E-Mail an:
Detlef.Lichtrauter@akv-nrw.de