Von: S.W.
Name des Trägers: DAK
Kostenträger: DAK
Dauer der Verschickung: Knapp 5 Wochen
Bericht: Vorab: Ich bin im Juni 1975 geboren (in Wiesbaden) und hatte leider das Pech im Dezember 75 im Alter von gerade mal 6 Monaten mit einer fiebrigen Erkältung ins Krankenhaus gebracht worden zu sein. Dort lag ich eine Woche, ohne Kontakt zu den Eltern, die Hände seitlich am Bett festgebunden und habe laut meiner Mutter mehr oder weniger eine Woche durch geschrien. Im Kindergarten habe ich nicht gesprochen und auch im 1. Schuljahr war ich noch extrem eingeschüchtert und ängstlich.
Vom 7.1. bis 9.2.1983 wurde ich dann mit 7 Jahren wegen Untergewicht und schwacher Konstitution ins Haus Hamburg in Bad Sassendorf geschickt, die schlimmsten Wochen meines Lebens.
Ich hatte unfassbares Heimweh und große Angst.
Ich erinnere mich, dass im Speisesaal auf der rechten Seite die Mädchen saßen, links die Jungs, Gruppentische. Alle mussten zunehmen. Nur ganz hinten war ein kleiner Tisch, daran saß ein großer Junge und ein kleines Mädchen, die einzigen, die abnehmen sollten.
Abends mussten mehrere Brote gegessen werden, ich habe sie einfach nicht runter gekriegt. Wer fertig gegessen hatte, durfte sich mit seinem Stuhl an den Rand, also an die Fenster setzen, so saßen immer weniger Kinder am Tisch und alle haben um die wenigen, die noch gegessen haben, wie im Kreis gesessen und auf sie geschaut und mussten warten. Das hat mir so einen Stress bereitet, dass ich gar nicht mehr schlucken konnte. Ich saß mehrmals als Allerletzte da, alle um mich herum, mich anstarrend, und bin nicht fertig geworden. Irgendwann wurden die Kinder dann aus dem Raum gelassen, nur ich musste alleine in die Küche, um da quälend weiter zu essen.
Ich tue mich bis heute schwer zu essen, wenn Fremde um mich herumsitzen.
Ich hatte immer massives Untergewicht, konnte essen, so viel ich wollte, mein Körper hat kein Gramm zugenommen.
Ich hatte nie Magersucht, es wurde mir aber oft unterstellt. Oft wurde ich auf Schilddrüse untersucht, weil das Untergewicht so krass war. (44kg bei 1,71m) Ich habe mich immer sehr geschämt, hatte immer das Gefühl, ich bin einfach nicht normal.
An immerwährenden Durst erinnere ich mich, vor allem beim Mittagessen, da es erst später etwas zu trinken gab. Ich hätte gerne Wasser getrunken, aber es gab nur Säfte oder Tee.
Mit die schlimmste Erinnerung aus der Zeit:
In der ersten Schwimmstunde (ich konnte noch nicht schwimmen), hat mich eine Erzieherin einfach ins tiefe Wasser geworfen, in der Annahme, dadurch lerne ich das wohl am schnellsten.
Allerdings bin ich einfach abgetaucht, ohne die geringste Bewegung. Ich erinnere mich deutlich an die wellenartigen Linien der Beleuchtung unter Wasser, wie die so hin und her flimmern, wie ich mit offenen Augen untergehe und denke: das war es. Ich sterbe jetzt. Ich kam gar nicht darauf, zu zappeln, mich zu bewegen, ich hatte bereits komplett aufgegeben und war wie erstarrt. Nach einer gefühlten Ewigkeit hat mich jemand wieder rausgeholt.
Danach hatte ich jahrelang ganz ganz schlimme Panik vor dem Schwimmunterricht. Tagelang vorher Bauchweh, geweint, meine Mutter angebettelt, daheim bleiben zu dürfen…
Eine weitere Erinnerung ist, dass wir abends nicht auf Toilette gehen durften. Ein Mädchen aus unserem Zimmer hat abends regelmäßig ins Bett gemacht, sehr geweint und wurde lautstark ausgeschimpft. Ich war zu verschüchtert, um überhaupt einmal laut zu weinen.
Montags abends durften die Eltern anrufen. Eine Erzieherin saß allerdings immer direkt daneben. Ich habe, als ich meine Mutter gehört habe, sofort angefangen zu weinen und gesagt „Ich will nach Hause!“, woraufhin das Gespräch von der Erzieherin jedes Mal direkt beendet wurde und so nur maximal 30 Sekunden dauerte.
Ein weiterer Horror war die Mittagsruhe. In meiner Erinnerung mussten wir eine halbe Stunde auf dem Bauch, eine halbe Stunde auf dem Rücken liegen, ohne uns zu bewegen, was ich als Quälerei empfunden habe, da es mir sehr schwergefallen ist, danach durfte eine halbe Stunde gelesen werden.
Insgesamt habe ich mich sehr klein gefühlt, beschämt, oft gedemütigt. Mir wurde von einer Erzieherin beim Abendessen mal ein Hausschuh weggenommen, sie hat mich suchen lassen und sich dann laut vor allen anderen über mich lustig gemacht.
Es sind kleine Momentaufnahmen, die im Gedächtnis hängen geblieben sind.
Wieder zuhause angekommen, wurde ich von meinen Eltern leider nicht sehr ernst genommen bzw. es gab Sätze wie „Zum Glück ist jetzt aber alles vorbei!“ und dann wollten sie nicht mehr darüber reden.
Ich hatte als Kind schon viele Ängste, bekam aber immer nur zu hören „Das bildest Du Dir ein“ oder „Steiger dich nicht so rein!“
Ich wusste und weiß bis heute teilweise immer noch nicht richtig, wie meine Gefühle und Bedürfnisse und Grenzen sind.
Mit Anfang 20 war ich wegen nervöser Herzbeschwerden (schneller Puls, Herzrasen) öfters beim Arzt.
Dazu kommt, dass ich seit frühester Jugend unter schwerer Migräne leide.
Mit Ende 30 nach einer Trennung und alleine mit einem 1-jährigen Kind brach dann endgültig eine Angststörung aus, mit Panikattacken, Herzrhythmusstörungen.
Anonymisierungs-ID: ame