59556 Bad Waldliesborn

Vielleicht wollte man den bedürftigen Arbeiterkindern, denn Kinder aus den sogenannten besseren Kreisen habe ich nicht gesehen, etwas Gutes tun

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Mit fortschreitendem Alter denkt man häufiger daran, was im Leben wie gelaufen ist, welche Gelegenheiten man genutzt hat, welche man hat verstreichen lassen, zu welchem Schaden oder Nutzen auch immer. Nur schiebt sich in diese Gedanken immer wieder das Bild eines sandigen, von alten Bäumen beschatteten Platzes hinter einem Kinderheim aus altem Fachwerk ein.

Und dann sind sie wieder da, die Gefühle! Die Gefühle von grenzenloser Verlorenheit, einer endlosen Zeit, die nicht vergehen will, Fremdheit gegenüber Menschen, die mich nie ansprachen oder gar beim Namen nannten, systematischer Missachtung und uferloser Traurigkeit im Meer des Alleingelassen seins. War das die Bruchstelle, nach der ich Ausschau hielt und die mir vieles erklärlich machen könnte?

Meine Mutter hatte doch gesagt, ich müsse hierhin kommen meiner Gesundheit wegen. Ich fühlte mich nicht krank und sagte es auch. Aber wen interessierte schon die Meinung eines Kindes? Die Meinung dagegen von Ärzten war meinen Eltern Gesetz! Dabei war ich weder rachitisch noch mit schlecht ausgebildetem Körperbau wie manche Kinder, ein wenig mager vielleicht, aber gesund. Meine Eltern ernährten uns aus dem Garten, sonst gab es nichts außer mal einer Frikadelle am Sonntag. Es waren die 50er Jahre!

An das Essen im Kinderheim kann ich mich nicht erinnern. És kann nicht reichhaltig gewesen sein, sicherlich aber genügend. Nur die Kurbehandlungen waren ein Graus. Wir wurden nach strengstem Plan ins Kurbad geführt und mussten dort in Holzwannen mit muffigem Wasser ausharren. Wofür? Ich war doch nicht krank! Aber jede Frage, jeder Ansatz von Widerstand wurde abgebügelt und im Keim erstickt. Wir hatten ruhig in den Wannen liegen zu bleiben – „Es muss sein!“ So lernte ich bald, diese Zeit zu genießen, mich still zu verhalten und zu träumen. Trotzdem das Solewasser und die Holzfässer muffig rochen, war ich vor den Anherrschungen sicher.

Die anschließende freie Stunde im Hof des Kinderheims war für mich das blanke Elend. Uns selbst überlassen war ich als Jüngster und schmächtigster von den Spielen der Großen ausgeschlossen. Ich saß auf meinem Baumstamm und schaute dem Spiel der anderen Kinder zu. Mir fehlten meine Spielkameraden von daheim. Frei stöberten wir in der Nachbarschaft umher und fanden stets neue Spiele. Hier aber gab es nur Einsamkeit, Gefühle des Verlassens seins, der endlosen Leere und des nicht Wahrgeommenwerdens. Sie umklammerten mich und ließen mich nicht mehr los. Wann hat das alles ein Ende? Die Missachtung durch die Schwestern war allgegenwärtig, sie waren als fühlende Menschen nicht erkennbar. Von ihnen kamen nur Befehle, Anordnungen und ständige Zurechtweisungen, denen man möglichst aus dem Wege ging. Dazu diese zweifelhaften medizinischen Anwendungen – es war kein Ende abzusehen. Die Verzweiflung, die Traurigkeit und dies endlose Gefühl von Gott und der Welt verlassen zu sein hatten mich fest im Griff. Gibt es eine Welt jenseits dieser unendlichen Trostlosigkeit?

Schlimmer noch waren die Nächte. Im riesigen Schlafsaal beherrschten stets Gefühle der Angst meinen Schlaf. Der große, dunkle Saal mit allen Kindern war mir unheimlich, stets war Unruhe, redeten einige im Schlaf, schlafwandelten oder warnten vor den Schwestern. Ein Junge lief regelmäßig im Dunkeln durch den Saal wohl auch schlafwandelnd. Und wenn er aufgefordert wurde, endlich Ruhe zu geben, kam immer die gleiche Antwort: „Ich muss die Kaffeeklappe zumachen“. Alle hielten ihn für verrückt, aber wen störte das schon? Im Schlafsaal hatte Ruhe zu herrschen, das reichte. Mir war es unheimlich, ich hatte Angst vor dem dunklen Saal mit den Kindern.  

Die Schwestern, eine uniforme Masse schon allein durch ihre Tracht, waren nicht als persönliche Menschen erkennbar, wollten es wohl auch nicht. Und medizinisches Personal gab es sicherlich nur im Kurhaus, doch kann ich mich an keinen Arzt erinnern oder an eine irgendwie eingehende Untersuchung. Wir hatten wohl eine pauschale Verordnung, das langte!

Wie kamen meine Eltern an eine solche „Kinderkur“, wo sie doch zu bescheiden waren, etwas für sich einzufordern? Die Krankenkasse muss da mehr nach sozialen Kriterien als nach medizinischer Indikation gehandelt haben. Wir waren sogenannte „Ausgebombte“, die Haus und Heimat verloren und nun eine neue Bleibe gefunden hatten.  Vielleicht wollte man den bedürftigen Arbeiterkindern, denn Kinder aus den sogenannten besseren Kreisen habe ich nicht gesehen, etwas Gutes tun. Aber pflegerischem und medizinischem Personal mit zweifelafter Vergangenheit sollte mit Sicherheit wieder eine Rückkehr ins bürgerliche Leben ermöglicht werden.

Anonymisierungs-ID: ajk

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