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65812 Bad Soden, 1955

Nie wieder im Leben habe ich mich so einsam und verlassen gefühlt.


Von: M.V.
Von Anfang November bis kurz vor Weihnachten 1955 war ich sechs Wochen lang
im Posterholungsheim in Bad Soden im Taunus. Das Haus hieß „St. Elisabeth“ und
wurde von Nonnen geführt. Als evangelisches Kind, Jahrgang 1948, war ich von
Anfang an eine Außenseiterin. Ich kann mich nicht erinnern, während dieser Zeit mit
einem anderen Kind gesprochen zu haben.
Im Gegensatz zu dem, was R. St. im o.a. Artikel schrieb, wurden wir dort nicht
geschlagen und auch nicht gezwungen, Erbrochenes zu essen. Das weiß ich sicher,
denn ich habe mal die Brotsuppe nicht nur in meinen Teller, sondern auch über einen
Teil des Tisches erbrochen. Das kümmerte niemanden! Der Tisch wurde jedoch erst
nach dem Essen gesäubert.
In Bad Soden war „Psychoterror“ angesagt. Ich war in der Gruppe die Jüngste,
gerade mal im ersten Schuljahr, alle anderen schon im dritten oder vierten. Zweimal
pro Woche mussten wir nach Hause schreiben. Heute weiß ich, dass Dritt- und
Viertklässler die Rechtschreibung besser beherrschen als ein Mädchen, das damals
erst seit einem halben Jahr die Schule besuchte.
Nach der Schreibstunde wurden die Briefe eingesammelt und einige wurden
vorgelesen. Meiner war immer dabei. Zur Belustigung aller, machte sich Schwester
D., den Namen werde ich mein Lebtag nicht vergessen, die Mühe, jeden meiner
Fehler hervorzuheben und zu kommentieren. Schon klar, dass ich es unter diesen
Bedingungen nicht wagte, etwas Negatives zu Papier zu bringen! Seitdem weiß ich,
dass ich dumm bin und zu nichts tauge!!
In der Gruppe gab es noch zwei drei andere, ebenfalls evangelische Kinder, die aber
mit mir auch nichts zu tun haben wollten. Mit denen saß ich Sonntagsmorgens allein
im Frühstücksraum vor einem Rosinenbrötchen, dem einzigen Essen, das mir dort
geschmeckt hat und wartete eine halbe Ewigkeit darauf, dass die Katholiken mit ihrer
heiligen Messe fertig wurden.
Nie wieder im Leben habe ich mich so einsam und verlassen gefühlt. Als ich endlich
wieder zu Hause war, musste ich weinen, konnte gar nicht mehr aufhören zu heulen.
Damit brachte ich meine Mutter zur Weißglut. So kam ich erst gar nicht in die
Versuchung, von dem zu erzählen, was ich wirklich erlebt hatte!
Bis 1967 habe ich alles und jeden gehasst, der katholisch war. Mittlerweile bin ich
toleranter geworden.
Anonymisierungs-ID: abs

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