87435 Allgäu, 1975

„Etwas das jetzt nach 50 Jahren hochkommt …“

Von: A.E.

Dauer der Verschickung: 6 Wochen

Bericht: Meine Erinnerungen sind sehr bruchstückhaft. Ich verbinde mit dieser Zeit, vom Gefühl her, aber nichts Positives oder Schönes. Was ich konkret erlebt habe, kann ich nicht genau sagen. Da ist nur ein tieftrauriges Gefühl des allein gelassen werden, im Stich gelassen werden. Ich war definitiv noch nicht in der Schule, wenn es 1974 war, dann war ich sogar erst 4 Jahre alt.

Da ich vorher lange im KH gelegen habe, ich hatte ein Abszess am Auge, wurde ich sicher, die Gelegenheit nutzend so früh in die Kur geschickt. Mein Vater war bei der DB und es war üblich bei uns Kinder in die Kur zu schicken. Ich habe drei ältere Geschwister, die definitiv alle drei auch zur Kur waren, allerdings waren sie wesentlich älter. Meine ältere Schwester war sogar nach mir zur Kur und sie ist 7 Jahre älter als ich. Die jüngste Schwester ist verschont geblieben.

Es muss April gewesen sein, denn Jemand sagte damals, es wäre ungewöhnlich das es noch einmal geschneit hatte. Ich wurde allein in einen Zug gesetzt und bei der Ankunft im Allgäu war es bereits abends und die Ankömmlinge durften ihren Restproviant essen. Ich erinnere mich, dass Briefe von zu Hause vor Allen vorgelesen wurden. Ob alle Kinder dabei erst in meinem Alter waren, weiß ich nicht, nehme es aber an. An einen Jungen erinnere ich mich, mit dem ich gespielt habe und mich angefreundet hatte. Also waren Jungen und Mädchen tagsüber nicht getrennt. An Spiele, basteln, vorlesen usw. erinnere ich mich nicht.

Meiner Erinnerung nach gab es einen Heimleiter, dessen Namen ich mit Herrn B. definiere. Und dass er Gitarre gespielt hat.

Ich bin in der Kur sehr krank geworden, war lange bettlägerig. Aber ich erinnere mich an keine Behandlung, keinen Arzt, keine Krankenschwester, keine Medikamente, auch an keine Anwendungen, auch an keine Mahlzeiten in einem Raum. Im Bett war ich allein und ohne Spielzeug. Und ich wollte, bzw. habe nichts gegessen. Erinnerungen an ein Tablet mit Essen und einem Apfel. Ich hatte Besuch von einem älteren Mädchen, das die Tochter von Bekannten meiner Eltern war. Diese habe ich aber ansonsten nie gesehen, sie sollte in der Kur abnehmen. Sie hat dann mein Essen gegessen.

Das man nachts nicht auf die Toilette durfte weiß ich definitiv noch. Ich habe ein Bild vor Augen, wo ich im Türrahmen stehe, ein langer, weißer Flur, eine Kinderfrau/Tante sitzt dort, hier befinden sich auch unsere Schränke. Sie näht an meinen blauen Pullover, die Blumenstickerei wieder an und ein Junge steht neben ihr, in der Ecke mit dem Gesicht zur Wand. In dem Flur hörte man auch immer einen Gong, oder etwas Ähnliches, wie eine Schulglocke.

Meine Mutter und mein Bruder haben mich vom Bahnhof abgeholt, sie kamen zu spät und abgehetzt. Ich habe beide ignoriert und für eine sehr lange Zeit nicht mehr gesprochen. In meiner Grundschulzeit und auch bis ich 20 Jahre alt war, war ich ein zutiefst introvertiertes Kind, das am liebsten unsichtbar gewesen wäre. Keine Aufmerksamkeit haben wollte. Schüchtern und angepasst. Die Augen immer auf den Boden blickend (mache ich heute noch manchmal). Es gibt viele Fotos aus meiner Zeit vor der Kur, da sehe ich fröhlich aus und in keinster Weise schüchtern. Mein Gefühl sagt mir, das es etwas mit dem Kuraufenthalt zu tun hat und das ich etwas verdränge. Etwas das jetzt nach 50 Jahren hochkommt und mir sagt, dass ich mich damit beschäftigen muss. Unabhängig davon, wie das Resultat ist, will ich es wissen und mich damit auseinandersetzen. Anonymisierungs-ID: alr

Newsletter-Anmeldung

SPENDEN

Vielen Dank, dass Sie sich für eine Spende interessieren:

AKV NRW e.V.

IBAN DE98 3206 1384 1513 1600 00

Für eine Spendenquittung bitte eine E-Mail an:
Detlef.Lichtrauter@akv-nrw.de