Von: I.B.
Ich bin im Mai 1948 geboren und habe 1960 an einer sechswöchigen Verschickungsmaßnahme
teilgenommen. Mein Vater war Mitarbeiter der Rheinbahn, die damals viel für die Kinder ihrer
Mitarbeiter getan hat und von der das Angebot einer Kinderverschickung ausging. Ich selbst war
begeistert, weil das Ziel im Allgäu lag und ich die Berge noch nie gesehen hatte, aber durch
„Heidi“ auf Alpenromantik eingestimmt war.
Ziel war das Kinderkurheim Maria Theresia in Kaufbeuren/Allgäu.
Dort habe ich keine direkte Gewalt erlebt (Schläge, sexuelle Gewalt o.ä.), wohl aber absolute
Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen der Kinder und deren Ausbeutung zu eigenen
Zwecken und zur Gewinnmaximierung.
Ich war in einer Gruppe von etwa 30 Mädchen untergebracht und voller Vorfreude auf die
anderen Kinder und die unbekannte Umgebung. Vom ersten Tag an jedoch empfand ich
Zwölfjährige sehr stark, dass es weder um mich noch um die anderen Kinder ging, sondern wir
in einer Art von Kaserne gelandet waren und zu gehorchen hatten. In der ersten Woche haben
Viele von uns fast ständig geweint, bis wir zu einer resignierten Haltung fanden.
Geleitet wurde das Heim von einer „Frau Doktor“, einer robusten freudlosen Person, die nicht
mit uns Kindern sprach und nur selten in Erscheinung trat. Sie wurde als absolute
Respektsperson generiert.
Das Beste, was ich berichten kann: in den ersten 2 oder 3 Wochen wurden wir vormittags von
einer „Tante M.“ betreut, vermutlich eine ausgebildete Erzieherin. Sie erzählte uns viel über die
Geschichte von Kempten, machte auch mal einen Ausflug mit uns in den Ort und zeigte uns die
besonderen Plätze. Sie ließ uns auch darüber in ein Schulheft schreiben und zeichnen.
Außerdem bastelte sie manchmal mit uns, zum Beispiel Perlen aus Papier. Tante M. war ein
Lichtblick, aber sie verabschiedete sich eines Tages und trat eine andere Stelle an.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir in der übrigen Zeit eine feste Bezugsperson hatten:
meines Erachtens waren es mehrere wechselnde Aufsichtspersonen, die uns sagten, was wir zu
tun hätten.
Oberstes Gebot war es, alles aufzuessen, was uns zur „Mast“ vorgesetzt wurde, denn obwohl
1960 die Hungerjahre vorbei waren, war es wohl Ziel der Heimleitung, dass alle Kinder
„zunehmen“ sollten. Dazu gehörte es, morgens, nachmittags und abends 3 sehr dicke
Brotscheiben (Graubrot) zu essen, das dünn mit Margarine und Marmelade bestrichen war
(abends eventuell mit dünnen Wurstscheiben – ich kann mich nicht genau erinnern). Mindestens
jeden 2. Tag bekam man anstelle der 3. Brotscheibe einen dicken Brotkanten mit sehr viel harter
bitterer Kruste. Freiwillig hätte ich niemals so viel davon gegessen, und ich gehe davon aus, dass
ein Teil des Tages damit ausgefüllt war, weil strengstens darauf geachtet wurde, dass jedes
Mädchen alles aufaß. Bis auch die letzte fertig war, durfte niemand aufstehen. An das
Mittagessen kann ich mich nicht erinnern – vermutlich war es genießbar, aber wenn es
besonders schmackhaft gewesen wäre, würde ich mich erinnern.
Zum Spielen oder Herumtoben, Lesen u .ä. hatten wir kaum Gelegenheit, sondern wir mussten
aufräumen, putzen, auf Kommando Briefe schreiben, Eintragungen ins Schulheft machen. Jeder
Brief wurde gelesen; es war nur erlaubt, etwas Positives zu schreiben. Ich hatte in der Schule
gerade ein paar Monate Französischunterricht und schrieb an meine Freundin: Nous pleurons
toujours…Die Karte kam nicht bei meiner Freundin an.
Nachmittags ging es meist in den nahe gelegenen Wald, wo wir alle zum Beerensammeln
(Himbeeren, Blaubeeren) ausgeschickt wurden. Alle Beeren wurden gesammelt und wir haben
nie wieder etwas davon gesehen, zum Beispiel gab es nie einen Nachtisch oder einen Kuchen.
Zu trinken gab es eine begrenzte Menge von dünnem Kräuter- oder Früchtetee. Wir waren in
Mehrbettzimmern untergebracht und durften im Bett weder lesen noch miteinander sprechen.
Dennoch ist es mir gelungen, mich mit einigen Mädchen anzufreunden.
Die Mädchen kamen von Nord bis Süd aus verschiedenen Bundesländern und ich hörte die
unterschiedlichsten Dialekte.
Als besonderes Highlight wurden wir einmal bei sehr warmem Sommerwetter zu einem Badesee
gebracht. Auf der Liegewiese gab es keinen einzigen Schattenplatz, jedenfalls nicht dort, wo wir
uns aufzuhalten hatten. Es achtete auch niemand darauf, dass wir uns abtrockneten und uns
etwas überzogen, so dass ich lange Zeit im nassen Badeanzug ohne Gelegenheit zum Umziehen
auf der sonnigen Wiese war und danach einen unbeschreiblich heftigen Sonnenbrand auf dem
Rücken hate; es bildeten sich dicke Blasen, so dass ich mehrere Tage lang allein im Schlafraum
zubringen und auf dem Bauch liegen musste. Das Essen musste ich trotzdem verzehren, aber
sonst kümmerte sich niemand um mich.
Damit wir nach unserer Rückkehr auch etwas Positives zu erzählen hatten, machten wir in der
letzten Aufenthaltswoche eine Tagesfahrt mit dem Bus, entlang einiger Voralpenseen, dann mit
der Gondel auf den Breitenberg, weiter zum Schloss Neuschwanstein, das wir besichtigten. Diese
Tagesfahrt hat mich sehr beeindruckt und vermutlich habe ich meinen Eltern auch davon
vorgeschwärmt.
Ich vermute, dass ich meinen Eltern nicht in aller Deutlichkeit erzählt habe, wie unglücklich ich
während der Zeit eigentlich war, denn sie hatten es ja gut mit mir gemeint und ich wollte auch
sehr gern „in die Berge“ fahren. . Meine Eltern haben aber sicher auch so gemerkt, dass es keine
schöne Zeit für mich war, denn sie kannten mich gut und hatten das Beste für mich gewollt. Ich
habe danach auch schnell wieder in den gewohnten Alltag in einem liebevollen Elternhaus und
einer guten Schule hineingefunden und konnte diese Zeit weitgehend „abhaken“, aber vergessen
konnte ich sie auch nicht und ich bin froh, dass heute darüber gesprochen werden kann.
Mit meinen Aufzeichnungen – mehr als 50 Jahre später – möchte dazu beitragen, die
Wachsamkeit gegenüber institutioneller Gewalt zu erhöhen, Kinder sowie andere
schutzbedürftige Personen stärker in den Fokus zu rücken und ein Zeitzeugenarchiv
aufzubauen, denn wenn es um Kinder geht, rücken auch heute mitunter andere Aspekte in den
Vordergrund, während die Interessen der Kinder nicht ausreichend beachtet werden.
Vor allem sehe ich die Verknüpfung von angeblichem Kindeswohl mit massiven wirtschaftlichen
Interessen Einzelner – es lässt sich viel Geld damit verdienen.
Hinzu kommt leider – in seltenen Fällen – sadistische Neigungen von Menschen, die sich Kindern
gegenüber stark und mächtig fühlen wollen. Diese Menschen fallen durchaus frühzeitig auf,
werden aber heutzutage eher nachsichtig behandelt und durch die Ausbildung geschleust, um
ihnen „noch eine Chance zu geben“ – vielleicht auch, um sich selbst nicht mühsam damit
auseinandersetzen zu müssen und Verantwortung zu übernehmen und sich selbst nicht dem
Verdacht der üblen Nachrede aussetzen zu müssen.
Aufgeschrieben im März 2022 nach bester Gewissenerforschung
Folgende Bilder und Notizen habe ich im Internet gefunden:
BRK-Kinderkurheim “Maria Theresia”
Kaufbeuren Peter-Dörfler-Str 10 Telefon: 2325 Höhe: 730 m Träger: BRK, Präsidium, München
22, Wagmüllerstraße 16; AOK (RVO), Ersatzkassen Betten: 130-150 Aufnahme: Knaben und
Mädchen von 6-15, ganzjährig;… Betten: 130-150
Aufnahme: Knaben und Mädchen von 6-15, ganzjährig; nicht aufqenommen werden Bettnässer,
bettlägerige Kinder
Preis: DM 7.bis 7.50
Kurmittel: Klimakuren. Liegekuren, Gymnastik
Ärztliche Behandlung durch Facharzt für Kinderkrankheiten im Haus
Indikation: Chronische Bronchitis, Asthma bronchiale, Neurasthenie, nervöse
Kreislaufstörungen ..allgemeine körperliche Unterentwicklung, Milieuwechsel,
Klimareiztherapie
Unterricht: Schulische Erziehung im Heim
Anonymisierungs-ID: ada
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