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Berchtesgaden, Kindersanatorium Schönsicht, 1972

Eigentlich hatte ich diesen Aufenthalt nicht wirklich negativ in Erinnerung, bis ich auf die Erlebnisberichte stieß

Mit 6 Jahren, direkt vor der Einschulung, wurde ich im Frühsommer 1972 nach Berchtesgaden verschickt. Ich hatte durchweg Schnupfen mit Nebenhöhlenentzündungen und Bronchitis. Man erhoffte sich Heilung. Zudem meine ältere Schwester Beate einige Jahre vorher auf Norderney war, ein Jahr vor mir meine Lieblingscousine auf Amrum (sie sagt heute, dass es ihr gefiel), ein Jahr später meine jüngere Schwester in Niendorf, die hoffnungslos begeistert war und uns ein Jahr später dort zur Besichtigung hintrieb. Es schien also eine gute Tat.

Ich erinnere mich an die Abfahrt in Gelsenkirchen HBF. Am Bahnsteig lernte ich die blonde Susanne vom Bild kennen, die für die Zeit meine Freundin wurde. Sie weinte permanent vor Heimweh, mich steckte das an, aber ich hatte eigentlich nur bedingt Heimweh. Neuen Sachen bin ich eher aufgeschlossen. Allerdings liegen mir große Gruppen und Trubel nicht, insofern kann ich mich an ein Unbehaglichsein und eine Leere erinnern. Mir fehle mein Rückzugsort. Frau Raatz habe ich recht freundlich in Erinnerung, ich glaube, sie war eine humane Erzieherin. Sie schreibt ja in den Nachrichten, dass sie für 6 Tage in Hannover war. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass sie nach der Häflte der Zeit weg war und nicht mehr wiederkam. Aber das sind vielleicht Kindheitserinnerungen. Mit der Vertretung muss ein strengerer Ton geherrscht haben, ich habe Frau Raatz vermisst.

Im Sanatorium war dienstags Fastentag, es gab zu allen Mahlzeiten nur Obst. Freitags gab es auch abends Fisch. Ansonsten gab es abends fertig belegte Brote mit Käse. Ich mochte keinen Käse, musste die Brote aber mit dem ekligen Tee runterschlucken. Mir war regelmäßig übel. Trotz Hunger wurde es nur eine Schnitte. Ich gleube aber, dass ich mich nicht übergeben habe.

Ich kann mich daran erinnern, dass wir vom Arzt eine „Impfung“ in den Po erhalten haben, die tat tagelang weh. Die Impfung ist aber nicht im Impfbuch eingetragen worden (hier interessiert mich brennend, was das war, denn ich bin chronischer Schmerzpatient und vielleicht ist hier der Ursprung zu suchen).

Ich kann mich daran erinnern, dass ich inhalieren musste und auch, dass es Bäder gab. Ich kann mich an das Stangerbad erinnern, bin mir aber nicht hundertprozentig sicher, ob ich auch darin war.

Wir sind viel spazieren gegangen oder haben Wanderungen gemacht. An normales Spielen kann ich mich aber nicht erinnern. Jeden Mittag mussten wir zur Holzhütte rauflaufen, die heute die Sporthalle ist. Dort mussten wir bei geöffneten Fenstern einen Mittagsschlaf halten oder ruhig auf harten Pritschen mit harten Wollfilzdecken liegen. Wir wollten das nicht. Wir lagen im Schlafsaal mit Metallbetten, Susanne lag links neben mir.

Es hieß, wir gehen natürlich auch zum Königsee, aber dort waren wir nie. Wir sind zu einem kleinen See gegangen. Dunkel habe ich in Erinnerung, dass das nicht der einzige Betrug war. Einmal sind wir zur Sprungschanze gegangen, die oberhalb unseres Hauses lag. Ich weiß auch noch, dass wir da oder woanders mit dem Sessellift gefahren sind.

Wie andere, kann ich mich mittlerweile dunkel erinnern, dass Paketsendungen aufgeteilt worden sind. Zu einem Geburtstag gab es auch mal Kuchen für alle.

Ich erinnere mich an den Speisesaal, groß in meiner Erinnerung, mit landestypischen Holzmöbeln. Und irgendwo war ein alter Kachelofen.

Die Gruppen waren nach Alter und Geschlecht getrennt.

Das Haupthaus war alt und hatte ein Gemälde auf der Frontseite. Irgendwie dämmert es mir, dass wir viel Sonne hatten und wenn wir von unseren Wanderungen kamen, dieses Haupthaus einen kuscheligen, warmen Eindruck gemacht hat, das aber mit der kühlen Stimmung im Haus nicht übereinstimmte.

Bei einer Wanderung sammelten Kinder Frösche ein und rissen denen bei lebendigem Leib die Beine aus.

Irgendwann gab es einen Tag, wo wir unser Taschengeld (ob es alles war, was unsere Eltern uns mitgegeben hatten, weiß ich nicht), an einem Stand in der Klinik ausgeben durften. Ich kaufte kleine, mit gezacktem Rand schwarz-weiß Bilder der Klinik und Umgebung, zudem eine Vogelflöte und ein weiteres Teil.

Die Nachrichten in die Heimat übernehm die Erzieherin, wir konnten noch nicht schreiben.

Meine Mutter regte sich nach der Heimkehr auf, dass nur die Hälfte der Anziehsachen benutzt waren, das meine gebrauchten Schlüpfer hart und schwarz waren. Diese mussten vernichtet werden. Mein Po war wund.

An mehr kann ich mich nicht erinnern. Auch an Gesichter nicht. Ich weiß auch nicht, ob wir täglich irgendetwas einnehmen mussten. Bis auf den Arzt kann ich mich auch nicht an Männer erinnern, aber eine Dame aus der FB-Gruppe, die 1973 dort war, schrieb, sie habe durch die Psychotherapie aufgedeckt, dass sie sexuell missbraucht worden sei. So etwas habe ich nicht auf dem Schirm. Eigentlich hatte ich diesen Aufenthalt nicht wirklich negativ in Erinnerung, bis ich auf die Erlebnisberichte stieß. Nun stehe ich in Zweifeln.

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