„Liegen, Luft, Marschieren“
Recklinghausen, 15.05.2024
von Michael Millgramm
In Recklinghausen fand vor sehr interessiertem Publikum ein multimedialer Abend zur Geschichte der Kinderverschickungen in Deutschland statt. Eingeladen hatte die Evangelische Erwachsenenbildung des Kirchenkreises Recklinghausen in Kooperation mit der Buchhandlung Kapitel Zwei.
Die Journalistin Lena Gilhaus las aus ihrem viel beachteten Buch „Verschickungskinder – eine verdrängte Geschichte“ und präsentierte Ausschnitte aus ihrer von der ARD produzierten TV-Dokumentation „Verschickungskinder: Missbrauch und Gewalt in Kinderkuren“. Einfühlsam und professionell moderiert wurde der Abend von Julia Borries, der Leiterin der Evangelischen Erwachsenenbildung, die im Gespräch mit Lena Gilhaus die vielfältigen Aspekte und historischen Zusammenhänge des Systems der Kinderverschickungen erörterte.
Lena Gilhaus präsentierte die Ergebnisse ihrer intensiven, akribischen und nach eigener Aussage oftmals sehr zäh verlaufenden Recherchen am persönlichen Beispiel ihres eigenen Vaters und seiner Schwester, die im Frühjahr 1967 im Alter von neun und sechs Jahren gemeinsam zur Erholung nach Sylt verschickt wurden. Dort angekommen, wurden die Geschwister getrennt. Ihre Erinnerungen an den maßgeblich aus Essen, Liegen und Bewegung an der frischen Luft bestehenden, lieblosen Kuralltag („Liegen, Luft, Marschieren“) stehen sinnbildlich für die Erfahrungen von Millionen Kindern, die zwischen den 50er und 90er Jahren in ganz Deutschland verschickt wurden.
Lena Gilhaus ordnete die Ergebnisse ihrer Recherchen historisch ein, berichtete über die massenhaften Transporte der Kinder, über die Ausübung psychischer wie physischer Gewalt, über die Rollen der Trägerorganisationen der Kuren, der Jugendfürsorge, der Ärzteschaft und auch der Eltern der betroffenen Kinder.
Im Anschluss an die Lesung entwickelte sich ein reger Gedankenaustausch der 25 anwesenden Besucher, die weit überwiegend selbst Betroffene waren, mit der Autorin. Lena Gilhaus gab wichtige Tipps zur Selbstrecherche, die von Michael Millgramm (Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V.) um Angaben zu den Hilfen bei Recherche und Aufarbeitung ergänzt wurden, die der Verein im Rahmen seines vom Land NRW geförderten Citizen-Science-Projektes zur Verfügung stellt.
Zum Ende der Veranstaltung bestand die Möglichkeit zu persönlichen Gesprächen mit der Autorin. Insgesamt war dies ein sehr gelungener und aufschlussreicher Abend, der den Betroffenen das Gefühl vermittelte, mit ihren eigenen Erfahrungen nicht mehr allein dazustehen.