77728 Schwarzwald, 1964

Körperliche Züchtigungen waren an der Tagesordnung

Von: G.A.

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit gemischten Gefühlen habe ich Ihren Artikel „Bitte holt mich, sonst muss ich weinen“ sowie die Beschreibungen von Betroffenen gelesen. Ich habe mich 100%ig wiedergefunden. Leider. 

Aufgewachsen bin ich in einer eher ländlichen Gegend, mit lauter Jungs als Spielkameraden. Man ging nach Schule und Mittagessen nach draußen und tauchte zum Abendessen wieder auf. Unsere Spielplätze waren Felder, Wälder und Flussufer. Ich war also stundenlang unterwegs, wahrscheinlich dadurch auch sehr dünn. Bei einer Untersuchung im öörtlichen Gesundheitsamt schlug man meinen Eltern eine „Kur“ vor. Im Jahr 1964 wurde ich daher, als 9jährige, für sechs Wochen in den Schwarzwald verschickt. Die schlimmsten Wochen meines Lebens.

Sie kennen die Beschreibungen von anderen Verschickungskindern. Sie ähneln sich alle. Auch wir saßen nach Geschlechtern getrennt an langen Tischen. Während des Essens durfte nicht gesprochen werden. Wir wurden wie die Gänse gestopft. Brotscheiben in wöchentlich steigender Anzahl, fettes Essen, was ich absolut ungenießbar fand und natürlich – absolutes Highlight – sollte man sich erbrechen müssen, traf man besser nicht den eigenen Teller. Der musste dann geleert werden, inklusivem Erbrochenen. Seit dieser Zeit kann ich keine Schmalzbrote mehr sehen. Schon der Geruch erzeugt bei mir Übelkeit

Unsere wöchentlichen Postkarten nach Hause wurden zensiert und verließen das Haus nur, wenn sie positiv genug waren. Ich habe in meiner Phantasie dutzende Male das Wort „Hilfe“ unter die Briefmarke geschrieben, aber natürlich wurden die Lobeshymnen erst frankiert, wenn die Heimleitung damit zufrieden war. Und meine Eltern wären natürlich nie auf die Idee gekommen die Briefmarke abzulösen, auf der Karte stand ja, wie gut es mir doch ging. 

Körperliche Züchtigungen waren an der Tagesordnung. Bei den Jungs nahm man die Haare, die an der Schläfe wuchsen und drehte diese und bei den Mädchen, die zu dieser Zeit fast immer längeres Haar hatten, wurde der Griff in die Haare am Hinterkopf und das Ziehen daran bis zur Perfektion verfeinert. Man hatte Schmerzen, aber es war äußerlich natürlich nichts zu sehen. Unsere „Betreuerinnen“ wurden mit „Tante“ angesprochen und beiden hätten wunderbar auch in jedem modernen Folterkerker eine Heimat gefunden.

Wir schliefen in schmalen Holzbetten mit 12 Kindern in einem Zimmer. Um 20:00 Uhr ging da Licht aus. Sprechen war nicht erlaubt und auch der Gang zur Toilette wurde bestraft. Ich habe mir in der ersten Woche meines Aufenthalts eine ordentliche Tracht Prügel eingefangen, weil ich nach dem morgendlichen Weckruf einem kleineren Mädchen, das dies nicht selber konnte, Zöpfe geflochten habe, die den „Tanten“ nicht gefielen. Sie waren nicht fest genug.

Als ich nach 6 Wochen wieder zu Hause war, war ich ein dickeres, aber viel stilleres Kind. Meine Eltern wunderten sich zwar, aber das Wort von „Autoritäten“ wurden nicht infrage gestellt. Ich habe jahrelang höllische Angst davor gehabt, noch einmal „verschickt“ zu werden.

Mit nachdenklichen, aber trotzdem freundlichen Grüßen

Anonymisierungs-ID: aeg

 

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