26548 Norderney, 1975

Aber mich hat diese Widersprüchlichkeit: Güte vorzugeben, Gewalt auszuüben, zutiefst verstört.

Von: A.Sch.

Als ich mit 9 Jahren von meinen Eltern 1975 mit meiner 4,5-jährigen Schwester zum Seehospiz gebracht wurde, war von sechs Wochen die Rede, die wir zur Behandlung und Erholung wegen unseres Asthmas dort sein würden. Es wurden 12 Wochen. Ohne Erklärung dazu, wieso es zu dieser Verlängerung kam. Die Eltern lieferten uns im Büro ab, danach gab es Elternbesuchsverbot. Wir wurden in verschiedenen Häusern untergebracht, weil diese nach Altersgruppen aufgeteilt waren. Nun gab es noch das Geschwisterkontaktverbot. Ich erinnere dunkle Klinkergemäuer. Vor dem Haus, in dem ich ein Zweierzimmer erhielt, war ein hölzerner Vorbau. Er verdunkelte den Eingang zur schweren Eingangstür. Ein paar Stufen führten in den Flur. Links war ein Raum mit Garderobenschränken. Hier sollte ich meine Kleidung für Draußen hinhängen. Als ich am selben Tag dort war, fehlte mein hellblauer Anorak. Ich ging nach oben, um die Oberschwester R. danach zu fragen. Sie sah mich missbilligend von oben bis unten an und fauchte, ob ich jemanden des Diebstahls bezichtigen wolle. Wenn ich jemanden beschuldigen würde, dann würde ich gestraft werden. Dieses eine Mal ließ sie mich davonkommen. Ich war verzweifelt, denn es war Frühjahr und kalt draußen. Irgendwann erklärte mir jemand, dass die Jacken, die vom Bügel rutschten und auf den Boden fielen, in den Mülleimer geworfen würden. Und da war sie dann auch: verdreckt, aber da.

Hiernach wusste ich, dass dies ein gefährlicher Ort war. Ich passte auf, um keinen Ärger zu bekommen, versuchte, mich unsichtbar zu machen, was insgesamt ganz gut gelang. Ich lernte Abläufe, Rituale, Regeln. Tagesablauf: früh geweckt werden, vorm Frühstück kirchliche Lieder (ich bin nicht getauft, meine Eltern fanden: gäbe es einen Gott, würde es keine Kriege geben. Ich kannte kaum eines der Lieder) singen oder welche aus der Liedersammlung ‚Mundorgel‘. Danach wurde ein Schalter bei den Nonnen umgelegt, denn nachdem von Liebe, Güte, Verzeihen gesungen ward, wurde das Essen – „Gottes Gaben“ harsch verteilt und musste mit scharfen Worten und strengen Blicken aufgegessen werden. Dann gab es Klozeiten. Wer Kot gelassen hatte, musste es der einen Schwester sagen, die sich damit auskannte, Kot zu analysieren und die zur Kontrolle in die Klokabinen ging. Angeblich um zu sehen, ob die Ernährung stimmte. Bloß bekam niemand etwas Besonderes beim Essen. Dann ging es raus zum Spazieren. Marsch in 2-er-Reihen. Nicht in den Ort. Niemand bekam dort mit, was mit uns passierte. Nein, den Deichweg oder am Strand entlang. Dann Spielzeit im Spielzimmer vorm Mittagessen. Hier hatten wir einzelne Fächer. Hier wurde mir mein Lieblingsspielzeug die Mattel-Barbie-Puppe mit Anziehsachen, mein in unserem eher ärmlichen Zuhause, wertvollsten Spielzeug, gestohlen. Da sagte ich schon nichts mehr dazu. In diesem Raum wurde auch (wöchentlich??) an die Eltern geschrieben. Der Text war vorgegeben positiv. Über das tolle Wetter, Essen, wie gut es einem gefiele. Die Briefumschläge durften nicht zugeklebt werden, sondern mussten in eine geflochtene Schale auf einen Schrank gelegt werden. Sie wurden kontrolliert. Wer sich negativ äußerte, bekam Ärger mit Schwester R. Einmal schmuggelte ich einen Brief nach Hause, weil ich eine Briefmarke von zuhause mitbekommen hatte und wusste, wo auf unserem Spaziergang der Briefkasten war, in den ich den Brief unbemerkt einwerfen könnte. Doch meine Eltern haben nie etwas zum Inhalt gesagt. Manchmal spielten wir auch vorm Haus: Seilspringen mit einem langen Seil, dass von zweien gedreht wurde. Man musste hineinlaufen und dann springen. Das machte Spaß. Vorm Mittag: Beten (wie geht das??). Ich murmelte irgendwas mit, konnte es irgendwann tatsächlich auswendig. Ich las kürzlich einen Abschlussbrief dieser Klinik: („wir lassen es uns nicht nehmen, die Kinder im lebendigen Wirken Jesu Christi zu erziehen“). Dann wieder Essenszwang. Meistens gab es diese Cocktailfrüchte mit der gummiartigen rosa Kirsche und dickem Sirup aus der Dose zum Nachtisch. Doch einmal war es fasriger Kürbiskompott, von dem ich würgen musste. Sie sagten mir: „Das isst du auf!“ Ich würgte weiter. Sie sagten: „Wenn du das aufisst, kannst du noch einen übrig gebliebenen Joghurt haben“. Ich würgte es hinunter, kotzte es auf dem Klo aus. Als ich in den Speisesaal zurückkehrte, waren die Joghurts weg, mit dem ich den Geschmack hätte loswerden können. Danach: Im Zimmer ausziehen und in Unterwäsche sowie barfuß auf der Wiese vorm Haus Runden drehen. Die Wiese war umgrenzt von einem Jägerzaun, direkt dahinter verlief der Deichweg, so dass Passanten uns dabei zusehen konnten. Eine Weile lag Schnee. Ich erinnere mich an blaugefrorene Zehen, die dann vorm Zwangsmittagsschlaf ins Waschbecken im Zimmer gehievt und geschrubbt werden mussten. Natürlich konnten wir nicht schlafen. Ich hatte eine Zimmernachbarin, die nett war. Das hat mich gerettet. Denn wir konnten leise reden. Und einmal haben wir versucht, das Fieberthermometer, dass nach jedem Mittagsschlaf gereicht wurde, an der Heizung zu erhitzen, um nicht zum Spaziermarsch mitgehen zu müssen. Das hat leider nie geklappt. Aber es machte das Gefühl, nicht ganz wehrlos zu sein. Und nicht allein zu sein. Also gab es wieder Tee und Kakao und Blechkuchen und Brote. Irgendwann hatte ich begriffen, dass es ums Mästen geht. Ich begann so wenig wie möglich zu essen. Bei der wöchentlichen Arztvisite (in Unterwäsche STILL in Reihen auf dem Flur in Reihen anstehen, dann von den Schwestern, dem strengen Prof. Dr. M. (SS-Arzt?) zugeführt werden, die diesem kuschend, ängstlich? gehorchten, dann: Wiegen, Abhorchen, in die Ohren sehen – fiel es dann auf, dass ich abnahm. Sie verordneten mir daraufhin Küchendienst. Das hieß: den Nachmittagskakao, der in riesigen Milchkannen aus der Zentralküche angeliefert wurde, sieben, damit keine Haut mehr darauf ist. Mir wird von dem Geruch heute noch schlecht. Und ich sollte abends in die Küche gehen und übrig gebliebene Butterbrote essen. Tat ich nicht. Ich wusste nun: ich kann mich doch widersetzen. Nach diesem Nachmittagsessen ging es wieder im Marsch raus. Zum Beispiel Muscheln sammeln: Herzmuscheln, Turmmuscheln, Krebse sehen, Quallen. Irgendwann ging es auch mal ins Wellenbad, dass neu errichtet worden war.  Ein kleines Schwimmbad mit Gittern an einer Seite. Ich konnte noch nicht lange schwimmen. Denn mit Asthma hatte ich Angst vorm Ertrinken. Beim ersten Mal war das Wasser ruhig, also schwamm ich zum Gitter. Dann begann ein Dröhnen und schwere Schaufeln begannen sich dahinter zu bewegen. Und plötzlich war die Hölle los im Wasser und ich wusste nicht, wie ich in dem Wellengang in Sicherheit käme. Ich hatte Angst. Erklärt hatte uns vorher niemand, was ein Wellenbad ist, angeleitet hatte uns auch niemand und ich kannte so etwas nicht. Ob meine Eltern angegeben hatten, dass ich schwimmen kann, weiß ich nicht. Ich mag bis heute keine Wellenbäder, obwohl ich mittlerweile zu gern schwimme. Einmal waren wir auch beim Leuchtturm. Dann gehörten noch Gesundheitsanwendungen zum Ablauf: Inhalieren mit Salzwasser. Ohren mit orangenen Gummischläuchen ausgespült bekommen. (Ich hatte schon vorher Löcher im Trommelfell! Das tat weh!) Dann: kurz warm, dann gefühlt ewig kalt duschen (samstags?). Am schlimmsten waren die ‚Güsse‘. Da ging es in einen grau gefliesten Keller. Dort waren auch die Duschen. Hier mussten sich 4-5 Kinder nackt an die geflieste Wand stellen und wurden mit einem ‚Feuerwehrschlauch‘ mit eiskaltem Wasser abgespritzt. Der Strahl war so stark, dass er an die Wand drückte. Eiskalt von hinten, vorn überall, Angst, sie würden den heftigen Strahl aufs Gesicht richten. Froh es jeweils überstanden zu haben. Schlotternd anziehen, im Bademantel die Treppen ins Zimmer hocheilen. Und abends? Ich dachte immer, ich könnte mich an alles erinnern, was dort passiert ist, habe aber im letzten November verstanden, dass ich bis auf eine Nacht, in der ich aufs Klo musste und eben nicht durfte, in der ich lange wach lag, um nicht einzunässen, in der ich mich dann erfolgreich heimlich durch die Flure schlich (Notbeleuchtung gab es), gar keine einzige Erinnerung an die Abende habe. Nicht ans Zähne putzen, in den Schlafanzug steigen, ein ‚Gute Nacht‘ irgendeiner Art. Das ist merkwürdig, weil sich dieses Nichterinnern nur auf die Abende bezieht. Ich habe nun von anderen in einer Selbstverständlichkeit gehört, dass abends eben Schlafmittel, die beim Abendbrot in die Tees gegeben wurden, wirkten. Sie sagten nüchtern, dass sonst eine einzige Nachtschwester mit allen Kindern im Haus überfordert gewesen wäre. Das Seehospiz hatte 450 Betten. In dem Haus, in dem ich war, waren mindestens 50 Kinder. Ich weiß seit Kurzem von Dr. W., der Pharmaziehistorikerin, dass im Seehospiz erwiesenermaßen Medikamente getestet wurden: Wurmmittel. (Aber nach meiner Recherche war das 1955-1960) Andere: Psychopharmaka, Neuroleptika, Sedativa wurden eingesetzt. Polioimpfstoffe, Tuberkulosepräparate, Barbiturate, Antirheumatika wurden getestet.

Meine Mutter schickte Pakete. Der Inhalt hätte 80.- DM entsprochen, viel Geld für damals und für unsere Familie. Manche sah ich im Postzimmer stehen, ich las meinen Namen auf dem Adressaufkleber und erkannte ihre Schrift. Allerdings habe ich nicht alle gesehen, denn manche haben mich nie erreicht, z.B. das mit dem Lieblings-T-Shirt oder das mit den neuen Strümpfen. Wenn Pakete geöffnet wurden, standen diejenigen, die welche bekommen hatten, um den großen Tisch. Dann gab es die Eröffnung einer Schwester, die einen mahnte, christlich zu sein, doch sicherlich teilen zu wollen?! Ein paar Süßigkeiten durfte ich mir nehmen, vielleicht ein paar Gummibärchen oder Bonbons. Fest steht, die Schwestern haben geklaut. Sie haben sich die Süßigkeiten der Kinder unter den Nagel gerissen, deren Kleidungsstücke, Spielzeug. (Ich kann mich nicht an Geld erinnern. Wo hätten wir das auch ausgeben sollen?) Insofern versagten diese Nonnen der Barmherzigkeit oder als wie sie sich erlebt haben mögen, an ihren eigenen Postulaten.

In der Nordseezeitung gibt es eine Veröffentlichung zum 100-jährigen Bestehen. Hier steht: „das Gottes Weg mit den Menschen ein Weg der Liebe und des Erbarmens ist, dass von dem HERRN der hier Antwort gibt, Geborgenheit ausgeht. Diese Botschaft hat einen Bezug zu denen, die gerade in ihrem jungen Leben liebevolle Zuwendung und Annahme brauchen.“ (S.31)

Ich bekam in meinem erwachsenen Leben immer wieder Panikattacken in Kirchen. Die hatte ich sonst nie. Ich habe es nicht verstanden. Über die Verschickung haben wir danach ja nie gesprochen, nicht mal in der Therapie. Niemand hätte uns geglaubt, geglaubt wurde den Autoritäten. Über Gefühle wurde eh nicht groß gesprochen. Nicht anstellen sollte man sich, nicht so empfindlich sein. Das war der Zeitgeist. Funktionieren war das Credo der Nachkriegsgesellschaft. Und eben darauf wurde gedrillt.

Aber mich hat diese Widersprüchlichkeit: Güte vorzugeben, Gewalt auszuüben, zutiefst verstört. Mir war klar: ich kann mich auf niemanden verlassen. Unsere Eltern haben uns weggegeben. Irgendwie waren wir zu anstrengend mit unseren Krankheiten (unwertes Leben?), dachte ich. Als diese ‚Kurzeit‘ immer wieder verlängert wurde, war ich überzeugt, dass meine Familie mich nicht mehr wollte und ich nie mehr nach Hause käme.

Ich erinnere mich, dass wir eine breite steinerne Wendeltreppe nach oben gehen mussten, um in unsere Zimmer zu gelangen. Oben angekommen war zumeist die Zimmertür gegenüber geöffnet und der Blick auf ein Mädchen (P.??) im Krankenhausbett, angeschlossen an Sauerstoff, zu sehen. Ich dachte: das ist das Sterbezimmer. Schließlich waren wir ja alle krank. Von diesem Zimmer ging ein Flügel nach rechts und links zu weiteren Zimmern ab. Meines war ganz hinten rechts den Flur entlang. Ich hatte während der ‚Kur‘ kein Asthma. Aber ich glaubte irgendwann, dass, wenn es wiederkäme – ich hatte es seit dem 3. Lj. – dann würde ich immer ein Zimmer weiter in Richtung des Sterbezimmers verlegt, um dann dort zu sterben. Welchen Sinn hätte das Ganze sonst machen sollen?

Und wieder ein Zitat aus dieser Jubiläumsschrift: (S. 30): „Es gilt ein Klima zu schaffen, in dem die Kinder sich geborgen wissen und wohlfühlen“. Und (S. 36): „Und es muss den Kindern so begegnet werden, dass ihnen der Krankenhausaufenthalt nicht unnötig schwerfällt. Das kann nur durch viel Verständnis für die Psyche des chronisch kranken Kindes geschehen und das Bemühen, den Kindern auch in ihren individuellen Problemen gerecht zu werden. Das Kinderkrankenhaus Seehospiz will mit offenen Armen helfen und Schutz gewähren, ohne dabei jedoch den Eindruck zu erwecken, dass diese Arme einen beengenden Zaun darstellen“.

Diese Denkschrift wurde vom damaligen Pastor W., Prof. M., Prof. Sch., und Pastor F. verfasst. Alles Angestellte im Seehospiz. Da diese ihren Ansatz nach draußen derart darstellten, nimmt es nicht Wunder, dass niemand wusste, was in dieser Einrichtung wirklich vor sich ging. Die Verschickungszeit war (nach früheren 3-wöchigen Tbc-Behandlungsdauern) auf 12-14 Wochen verlängert, die Eltern wurden außen vorgehalten und fehlinformiert, diese Leute konnten tun, was sie wollten und dabei etwas 18,00 DM pro Tag an jedem Kind verdienen. Das nennt sich Missbrauch. Ab und zu wird es wohl Hygienekontrollen seitens des Gesundheitsamts gegeben haben. Das Mutterhaus Bad Harzburg, das zur Diakonie gehört, hatte nach Enteignung durch die Nazis das Heim zugesprochen bekommen. Davor war es ein Reichsjugenderholungsheim und Lazarett im 2. Weltkrieg. Pädiatrische Ideen des Nationalsozialismus, heuchlerisch-verlogene (und-)christliche und eine von der Abhärtungsidee geprägte Überzeugungen wirkten hier auf Geist, Seele und Körper auf ungute Weise ein. Dem konnte sich kein Kind entziehen.

Wieder aus der Jubiläumsschrift (S.32): „Das Seehospiz als eine Einrichtung der Diakonie versucht so, mit einer bewusst ganzheitlichen Therapie, den Kindern nach Leib, Seele und Geist zu helfen.“

Der reinste Hohn. Als uns unsere Eltern doch wieder abholten, sprach ich nicht mit ihnen. Schließlich hatten diese Leute uns dem ausgesetzt. Ich dachte, sie wollten uns dann eben für eine Weile loswerden, wer weiß, wann ihnen wieder danach sein wird? Zuhause: ein renoviertes Kinderzimmer. Wieder ordnete ich dies so ein, dass ich dachte: ach, sie wollten uns zum Renovieren aus dem Weg haben. Dass meine Mutter unter der Trennung litt, dass sie „Heimweh“ hatte und jede Woche vom Telefon einer Nachbarin im Seehospiz anrief, um wegen einer Besuchserlaubnis zu betteln, hat sie mir erst vor zwei Monaten erzählt. Eine Ärztin (das muss Dr. F. gewesen sein, die dort Oberärztin war, die ich aber nie gesehen habe) habe ihr immer wieder gesagt, dass sie Geduld haben solle, weil es noch dauere. Und Besuche seien verboten. Die Kinder würden bloß Heimweh bekommen.

Ich träumte noch 30 Jahre danach von diesem Aufenthalt. Es waren keine guten Träume. Ich kann mich bis auf die aggressive, sadistische Schwester R. und den autoritären, Angst einflößenden Prof. M. an kein Gesicht erinnern. Ich habe einen angespannten Tonus, bin unruhig, immer auf der Hut bei anderen, kann mich schwer auf Beziehung einlassen, sträube mich gegen Dominanz, vermeide alles, was mit Kirche zu tun hat, bin sehr empfindlich und kränkbar. Das sage ich über mich, das habe ich bei anderen Verschickungskindern, die längst erwachsen sind, durchgängig erlebt bzw. von ihnen gehört.

Zu guter Letzt: Psychologen gab es erst 1985. Eine Lehrerin gab es 1975 auch noch nicht. Die paar Schulstunden in der Woche (2??), in der alle Schulkinder in der Kapelle saßen, waren ein Witz, gelernt habe ich hier nichts. Als ich nach drei Monaten wieder in der Grundschule war, fiel ich am ersten Tag in der Mathearbeit durch, denn auch dort gab es kein „individuelles Herangehen“ bzw. die Berücksichtigung, dass ich so lange weg war. Die Schuleignungsuntersuchung empfahl die Hauptschule für mich. (Ich bin heute Akademikerin). Das war beschämend, kränkend.

Dann habe ich mich mit dem Thema befasst und Frau R. geschrieben, der Kontaktperson, wenn man vom zuständigen Mutterhaus Aufklärung möchte. Sie gehört zur DMK-Stiftung, die mit dem Mutterhaus verbunden ist, obwohl es im Internet heißt, sie sei eine unabhängige Person.

Ich habe mit ihr Emails ausgetauscht, von denen ich Ihnen drei mit sende. Dieser Austausch hat mir geholfen, in die Wut zu kommen. Denn Frau R., die freundlich schrieb, hat meine Beschreibungen bei einem Gespräch im September 2023 vorgetragen und mir die Antworten teilweise wiedergegeben. Hieraus kann ich nur schließen, dass sie eingesetzt wurde, um jegliche Kritik vom ‚Mutterhaus‘ abzuhalten. Und ich lese daraus, dass die Kirche immer noch damit beschäftigt ist, andere anzulügen, die Kirche von jeglicher Kritik freizusprechen.

Die Diakonissin habe zu dem Umstand, dass ich meine kleine Schwester nicht sehen, wir nicht zusammen sein konnten gesagt, dass dann eine von uns wohl eine Infektion gehabte habe und wir deshalb getrennt untergebracht worden seien. Das ist eine glatte Lüge und zeigt, dass sich die Diakonissin im Harz nicht einmal mit der Struktur, den Räumlichkeiten auf Norderney befasst hat. Dann behauptete sie noch, dass die Kinder „nach und nach ausgezogen wurden“, um sie an das Klima zu gewöhnen und abzuhärten. Dies ist eine weitere Lüge. Niemand hat uns ausgezogen. Alle mussten umgehend öffentlich halbnackt in der Kälte herumlaufen. Und zu behaupten, dass blaugefrorene Füße auf gute Art abhärten würden? Wirklich?

Diese Diakonissin hat im August/September 2023 eine Mail weiterleiten lassen, in der sie beschreibt, dass es die Kuren gab und dass dort irgendwelche Vorkommnisse waren, die wohl nicht so gut gewesen seien. Dann beschreibt sie, dass ein Bericht hierzu veröffentlicht werden solle. Wenige Sätze später bittet sie um Verzeihung, Vergebung. Warum wohl, wenn nicht WEIL der Bericht veröffentlicht werden soll. So macht das die Kirche, wenn es um Missbrauch geht. Und nimmt die Betroffenen nicht ernst, ändert nichts, zieht keine Konsequenzen.

Was ich mir gewünscht habe in diesem Prozess ist das Verstehen, warum das alles so unbehelligt ablaufen konnte, immerhin etwa 30 Jahre lang. Was die Mitarbeiterinnen für Überzeugungen hatten, um sich so zu verhalten. Und mir geht es um Anerkenntnis des zugefügten Leids. Entschädigung? Ja, auch das. Weil es etwas notdürftig ausgleichen helfen könnte, was mein ganzes Leben prägt.

Verstanden habe ich es nun. Es war Zeitgeist, geprägt von der Naziideologie, dem Nachkriegserleben, lauter traumatisierter Menschen, unterdrückter Nonnen, die dorthin abgeordnet wurden und die ihrem Pastor und dem Professor Untertan waren, die den Druck an die abhängigen, wehrlosen Kinder weitergaben. Plus eine Abhärtungsmedizin, die noch keine guten Medikamente für die Behandlung des Asthmas hatte.

Es gibt auch etwas, was am Ganzen für mich gut war: ich war unter Kindern, nicht so isoliert wie zuhause in meinem Dorf, die einzig Kranke (neben meiner kleinen Schwester) und ich hatte danach für ein paar Jahre weniger Asthma.

Aber diese Verlassenheits- und Todesangst, die Angst vor Strafen, der Sadismus der Schwester R. (von allen gefürchtet), das hat mich geprägt.

Ich war nie wieder auf der Insel, konnte nicht ertragen, Bilder vom Seehospiz zu sehen, bekam Beklemmung/Angst, wenn ich welche von Prof. M. oder Schwester R. sah. Aber jetzt plane ich, im April dort hinzufahren, mit einem anderen Verschickungskind‘. Ich lasse mir die Insel nicht länger nehmen.

  Anonymisierungs-ID: aky

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