Von: Redaktion
Am 24. Januar 2025 besuchte Michael Millgramm, Betroffenenvertreter und Social-Media-Beauftragter des AKV-NRW e.V., gemeinsam mit CSP-Projektleiter Bastian Tebarth die Kinderheilstätte Nordkirchen. Dort trafen sie den Leiter der Einrichtung Thomas Pliquett zum Gespräch. Ziel des Besuchs war ein Austausch über die (Vor-) Geschichte der Kinderheilstätte Nordkirchen. Vor ihrer Ausrichtung als Institution für behinderte Kinder und Jugendliche nahm die Kinderheilstätte bis etwa 1960 eine zentrale Rolle in der Kinderheilfürsorge in Westfalen ein.

Am Treffen nahm auch Schwester Anna Maria Panjas vom Orden der Heiligen Maria Magdalena Postel teil. Die Nonnen des Ordens, auch als Heiligenstädter Schulschwestern bekannt, waren in dieser Zeit für die Pflege in Nordkirchen verantwortlich. Ebenfalls mit beim Treffen: Monika Brüggenthies. Als Ansprechperson für Missbrauchsopfer beim Diözesancaritasverband Münster ist Frau Brüggenthies für das Bistum auch mit dem Thema Kinderverschickung betraut.
Die Kinderheilstätte Nordkirchen bis 1960

Von der Zwischenkriegszeit an bis etwa 1960 gehörte die Kinderheilstätte zu den wichtigsten Institutionen in der Region zur Behandlung von Tuberkulose-erkrankten oder -gefährdeten Kindern. Einzugsgebiet war das Münsterland und vor allem das westfälische Industrierevier: Viele Kinder kamen entweder von den Dörfern und Weilern aus der Umgebung. Oder aus dem nördlichen Ruhrgebiet – Kinder, deren Väter als Bergbauarbeiter bei der Knappschaft versichert waren. Mitte der 1960er erfolgte die Neuausrichtung unter Beibehaltung des Namens.
Dass Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien in der Zeit bis 1960 in der früheren Kinderheilstätte Nordkirchen nicht nur von ihrer Tuberkulose geheilt wurden, sondern auch Misshandlungen erleben mussten, darauf deuten erste Zeitzeug:innen-Aussagen hin. Neben den typischen strukturellen Entstehungsbedingungen für Gewaltregime wie personelle und materielle Unterversorgung, scheinen in der Kinderheilstätte Nordkirchen auch ideologische Gründe eine Rolle gespielt zu haben. Zumindest deuten die biografischen Hintergründe und mutmaßliche NS-Verstrickungen der damaligen ärztlichen und pflegerischen Leitungen und einzelner Mitglieder des Verwaltungskuratoriums auf eine möglicherweise die Menschenwürde missachtende Heimkultur bis Anfang der 1960er.

Das CSP sammelt derzeit Berichte von ehemaligen Verschickungskindern, die zwischen 1946 und 1961 in der Kinderheilstätte Nordkirchen verschickt waren, und erforscht die Geschichte der Einrichtung. Im Laufe des Jahres 2025 werden die Rechercheergebnisse zur Geschichte der Kinderheilstätte veröffentlicht.
Spurensuche in der Heilstätte


Die heute Verantwortlichen der Nachfolgeinstitutionen halfen bei der Spurensuche mit dem, was sie noch finden konnten. Herr Pliquett zeigte alte Fotografien der Kinderheilstätte, mutmaßlich aus den 1930er Jahren, die einen Einblick in die historische Entwicklung der Einrichtung boten. Schwester Anna Maria überreichte Michael Millgramm eine Festschrift aus dem Jahr 1993 zur 100-jährigen Arbeit des Schwesternordens in Nordkirchen. Schwester Anna Maria arbeitet seit 13 Jahren in der Einrichtung und ist die letzte verbliebene Ordensvertreterin in Nordkirchen.





Schwester Anna Maria führte die Besucher durch die heute noch erhaltenen Gebäudeteile der ehemaligen Heilstätte, darunter das sogenannte „Löwentor“. Das Gebäude zeichnet sich nicht nur durch die Löwenfiguren am Eingang, sondern auch durch kunstvoll geschnitzte Holzfiguren auf dem Handlauf des Treppenhauses sowie Kacheln mit Kindermotiven aus. An die beeindruckenden Schnitzereien im Handlauf können sich möglicherweise viele ehemalige Verschickungskinder erinnern.
Im Gespräch erzählte die aus der DDR stammende Schwester, dass sie selbst als Kind gemeinsam mit ihrem Bruder verschickt gewesen sei.
Links: Einer der beiden Löwen am Hauseingang.





Spurensuche im Schloss
Auf das Treffen in der Kinderheilstätte folgte ein Besuch des Schlosses Nordkirchen. Das auch als „Versailles von Westfalen“ bekannte Wasserschloss gehörte wie die Kinderheilstätte im 20. Jahrhundert zeitweise zu den Gütern des Adelsgeschlechts Arenberg. Erste Forschungen deuten darauf hin, dass Mitglieder der adeligen Großindustriellenfamilie, die im Verwaltungskuratorium der Kinderheilstätte saß, eng mit dem NS-Regime kooperierten. Zeitgenössischen Anschuldigungen zufolge soll etwa der damalige Erbprinz und spätere Herzog Karl von Arenberg eine aktivistische Rolle im Dritten Reich gespielt haben.


„Wir hoffen, mit erinnerungskultureller Arbeit das Bewusstsein für die Geschichte der Verschickungskinder stärken und deren erlittenes Leid sichtbar machen zu können.
Letztes Jahr haben wir beispielsweise im Kurpark von Bad Sassendorf mit dem dortigen Bürgermeister feierlich eine Gedenkskulptur eingeweiht.
Der Besuch in Nordkirchen bot für uns eine wertvolle Gelegenheit, das historische Erbe der dortigen Kinderheilstätte zu beleuchten und die Bedeutung der Erinnerungsarbeit zu unterstreichen.
Erste Signale aus den Gesprächen in Nordkirchen stimmen uns hoffnungsfroh, dass auch dort ein Gedenkort entstehen könnte.“
Michael Millgramm, AKV-NRW e.V.