Das Plakate-Kleben hat sich gelohnt. Die meisten Plätze in der Volkshochschule in Dülmen waren besetzt. Viele waren gekommen, um sich die Geschichte von Udo Evers anzuhören. Zum ersten Mal las der 56jährige Dülmener aus seinem autobiografischen Werk „Verschickungskind“ vor.
Alle waren sich einig: Das persönliche Schicksal des Autors, die Atmosphäre des Raumes, die Gastfreundschaft der VHS Dülmen und der gut aufgelegte Moderator und erste Vorsitzende des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V.“, Detlef Lichtrauter, machten den Abend zu einem Ereignis, das in Erinnerung bleiben wird.
Ich war sehr davon beeindruckt, wie Udo Evers sich auf meine Fragen eingelassen hat und sich uns in den Gesprächen geöffnet hat.“ Er hat so eine sonore Lesestimme, die wünscht sich jeder Chorleiter zur Besetzung seiner Bassstimme. Nicht nur seine Geschichte, seine ganze Persönlichkeit hat uns alle sehr fasziniert.
Nie hätte ich gedacht, dass so viele Menschen Interesse an meiner Verschickungsgeschichte haben könnten. Es kamen so viele Fragen aus dem Publikum. Das hat mich sehr beeindruckt. Wie viele Menschen an meiner Geschichte interessiert sind, hat mir fast die Schuhe ausgezogen. Den ganzen Abend wurde ich getragen von Mitgefühl.
Medikamentenmissbrauch
Zu Gast war an dem Abend auch die Dülmener Pharma-Historikerin Dr. Sylvia Wagner. Die Wissenschaftlerin wurde von der NRW-Landesregierung beauftragt, das Thema Medikamentenmissbrauch bei Heim- und Verschickungskindern aufzuarbeiten. Denn viele verschickte Kinder erlitten in ihrer Kurzeit nicht nur Gewalt und Zwangsernährung, sondern mussten ohne entsprechende Diagnose oder Zustimmung der Eltern Medikamente einnehmen. Ein Besucher erinnerte sich daran, dass er immer eine große Menge Honig gegen seinen Willen in sich reinzwängen musste. Sylvia Wagner vermutete, dass dem Betroffenen so verbotene Beruhigungsmittel verabreicht worden sein könnten. Solche Formen der Medikamentengabe kenne sie aus ihrer Forschung. Besonders das Thema der möglichen verdeckten Medikamentengabe wühlte das Publikum an dem Abend besonders auf.
Gesprächsrunde – nicht nur zur Verschickung
Udo Evers möchte ein regelmäßiges Treffen für Betroffene in Dülmen organisieren.
„Dabei ist es mir wichtig, dass wir auch einmal über andere Themen sprechen können, wie zum Beispiel Politik, Wetter, Fußball, was auch immer. Natürlich sprechen wir bei Bedarf auch über das Thema Verschickung“, erklärte Evers seine Idee.
Spontan fanden sich mehrere Gäste, die Interesse an seinem Angebot haben. Wer Interesse hat, an den Treffen teilzunehmen, bitte melden:
projekt@akv-nrw.de. Stichwort: Udo Evers
„Von diesem Abend werde ich noch lange zehren.“ Udo Evers
Das Buch
In seinem autobiografischen Buch erzählt Udo Evers von strammen Märschen in der Nacht mit Schnee, der dem Fünfjährigen bis zur Hüfte reichte, von Todesangst, weil er als Nichtschwimmer in ein tiefes Schwimmbecken gezwungen wurde und von dem „Schraubstockgriff“ der Ordensfrauen, mit dem er über sein Gitterbett gezerrt wurde, als er sich nachts übergeben musste. Statt Wut erlebte er Scham über diese Demütigungen und war sicher „Das glaubt mir doch keiner“. Dazu kamen Schuldgefühle: „Wieso ist mir das passiert? Ich muss mich falsch verhalten haben. Oder warum tun mir meine Eltern das sonst an?“ Diese Gefühle verfolgen ihn bis heute.
Udo Evers war gerade mal fünf Jahre alt, als er von Borken in den Schwarzwald verschickt wurde. Sechs Wochen verbrachte er ohne Familie oder Freunde in der Fremde und „war fest davon überzeugt, nie wieder nach Hause zu kommen“. Nach der sogenannten „Kur“ war nichts mehr wie vorher. „Die Folgen spüre ich bis heute“, sagt er. „Ein Verschickungskind bleibt man für immer“. Die Kinderheilanstalt, in der Udo Evers gedemütigt und misshandelt wurde, hieß „Villa Sommerberg“. Sie gehörte zum „Orden der Schwestern der Liebe vom Kostbaren Blut“. Wie viele andere Heilanstalten und Verschickungsheime, stand sie in konfessioneller Trägerschaft der katholischen Caritas.
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